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Wer soll bei der Arbeit bestimmen: Die Chef:innen, die Eigentümerschaft oder die Angestellten?

Haben Angestellte schon bald mehr Mitspracherechte?

Demo vor Tönnies
Mahnwache vor der Fleischfabrik Tönnies: Der Corona-Ausbruch beim deutschen Fleischverarbeiter im Frühling 2020 hat eine Debatte über die Arbeitsbedingungen in der Branche ausgelöst. Keystone / Friedemann Vogel

Menschen rund um die Welt haben während der Corona-Pandemie den Angestellten in der Pflege, im Verkauf und anderer Branchen applaudiert. Genau der richtige Zeitpunkt, um nicht nur Applaus, sondern Mitsprache einzufordern, finden Fachleute. Aber ist die Krise dafür wirklich geeignet?

Letzten Sommer, Mitten in der Pandemie, sorgte das Schweizer Unternehmen Globetrotter für unerwartete Schlagzeilen: Die Reisebürokette mit Sitz in Bern rief die Soziokratie aus. Auf einmal sollten die Angestellten mitreden können, wenn es um wichtige Führungsentscheide geht – zum Beispiel darum, wer das Unternehmen verlassen muss.

Globetrotter hat damit ein Thema aufgegriffen, das international derzeit heiss diskutiert wird: die Demokratisierung der Arbeitswelt. Die Corona-Krise hat klargemacht, wie wichtig Arbeitskräfte sind. Wo wären wir ohne das Gesundheitspersonal, das unsere Kranken pflegt, ohne die Verkäuferinnen und Verkäufer, die unsere Lebensmittelläden selbst während des Lockdowns am Laufen hielten, ohne die Mitarbeitenden in der Logistikkette, die dafür sorgen, dass unsere Online-Bestellungen rechtzeitig im Briefkasten landen? Und wenn sie für ein Unternehmen so wichtig sind, weshalb sollen die Angestellten dann nicht mitreden können, wenn es um zentrale Entscheide geht?

Unter Workplace democracy – oder eben Demokratie am Arbeitsplatz – versteht man eine ganze Reihe von Massnahmen und Instrumenten, die den Angestellten mehr Mitsprache ermöglichen. Darunter fallen klassische gewerkschaftliche Ansätze wie das Recht auf Streik, das Recht, sich als Angestellte organisieren zu dürfen, und Personalkommissionen.

Das Themengebiet umfasst aber auch weitergehende Ideen wie direkte Mitsprache bei Arbeitsaufgaben und -abläufen, Basisabstimmungen zur strategischen Ausrichtung des Unternehmens und demokratisch gewählte Führungskräfte.

Die Debatte um Demokratie in der Arbeitswelt wurde im Zuge der ersten industriellen Revolution im 19. Jahrhundert angestossen. Wichtige Vordenker waren etwa John Stuart Mill und Karl Marx. Im 20. Jahrhundert geriet das Thema in Vergessenheit, ehe es in den 1980er-Jahren langsam wieder populärer wurde. In den letzten Jahren erfuhr es – angefeuert durch tiefgreifende Wirtschaftskrisen – erneut einen Aufschwung.

“Die Krisen haben uns vor allem gelehrt, dass Menschen nie eine Ressource sind. Sie investieren ihr Leben, ihre Zeit und ihren Schweiss für die Unternehmen, für die sie arbeiten, und deren Kunden”, schreibt die Wirtschafts- und Soziologieprofessorin Julie Battilana in einem Leitartikel auf der Website ihres Arbeitgebers, der Eliteuniversität Harvard.

Gemeinsam mit Isabelle Ferreras, die wie Battilana in Cambridge, Massachusetts, unterrichtet, und der Soziologieprofessorin Dominique Méda von der Uni Paris-Dauphine hat sie im Mai ein Manifest lanciert.

Mittlerweile haben über 6000 Akademikerinnen und Akademiker aus aller Welt die Erklärung mit dem Namen “Arbeit demokratisieren, dekommodifizieren, nachhaltig gestalten”Externer Link unterzeichnet. Als eine der ersten auch die Schweizerin Rahel Jaeggi, Philosophieprofessorin an der Berliner Humboldt-Universität.

Lesen Sie hier das Interview mit Rahel Jaeggi zum Thema Mitsprache am Arbeitsplatz:

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Krise bringt Probleme auf den Tisch

Warum ausgerechnet während der Krise einen Vorstoss für mehr Demokratie lancieren? Stehen die Chancen auf Erfolg nicht ausgerechnet jetzt besonders schlecht, wenn die Angestellten um ihre Jobs fürchten und die Unternehmen unmittelbar auf sich rasch verändernde Umstände reagieren müssen? “Eine Krise ist immer auch ein Entscheidungsmoment. Da spitzen sich Dinge zu, da beschleunigen sich Dinge. Am Ende ist es besser oder schlechter”, erklärt Jaeggi im Gespräch mit SWI swissinfo.ch.

Nun biete sich eine Chance, weil die Corona-Krise Notstände sichtbar mache: die Arbeitsbelastung im Gesundheitswesen, die Probleme, die entstanden seien durch die Auslagerung von Aufgaben, oder die prekären Arbeitsbedingungen in der deutschen Fleischindustrie. “Solche Probleme sind zwar nicht neu, haben nun aber viel mehr Medienpräsenz und werden in den Abendnachrichten diskutiert”, sagt die in Bern geborene Professorin.

Corona habe zudem gezeigt, dass eigentlich ganz viel möglich sei, so Jaeggi. “Das Dogma ‘keine Schulden machen’ scheint von einem Tag auf den anderen zum Beispiel nicht mehr zu gelten. Plötzlich gibt es ganz, ganz viele Möglichkeiten der staatlichen Unterstützung, die vorher niemand für möglich gehalten hätte.”

Verschlechterung nach der Finanzkrise

Allerdings: Bereits während der Finanzkrise sahen Expertinnen und Experten eine erhöhte Notwendigkeit und gute Chancen für mehr Demokratie am Arbeitspatz. Etwa Russell Lansbury. Der australische Wirtschaftsprofessor sagte 2009 in einer Rede: “Die globale Finanzkrise bietet […] eine Chance, Reformen in Angriff zu nehmen, die eine demokratischere Arbeitswelt schaffen.”

Ein Grund für seinen Optimismus: Unternehmen erfänden sich gerade in Krisenzeiten oft neu, nachdem sich gezeigt habe, dass die alten Organisationsformen nicht funktionierten und nach neuen Möglichkeiten gesucht werde.

Passiert ist danach das Gegenteil: Zwar gibt es keine quantitativen Untersuchungen für das Niveau der Demokratisierung der globalen Arbeitswelt. Als Annäherung kann aber der Global Rights Index des Internationalen Gewerkschaftsbunds ITUC verwendet werden. Dieser untersucht, wie stark in verschiedenen Ländern die Rechte der Arbeiterschaft eingeschränkt und verletzt werden.

In den Jahren nach der Finanzkrise hat sich dieser Index verschlechtert. Im aktuellen ReportExterner Link für das Jahr 2020 hält der ITUC fest, die Arbeiterrechte würden derzeit so stark verletzt wie nie in den letzten sieben Jahren – was dem Trend der letzten Jahre entspreche.

Zwölf Länder stuft der Internationale Gewerkschaftsbund ITUC in seinem Global Rights Index in Kategorie eins ein: Dänemark, Deutschland, Finnland, Irland, Island, Italien, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, Slowakei und Uruguay. In Ländern dieser besten Kategorie werden Arbeiterrechte nur sporadisch verletzt.

Die Schweiz schafft es im Index zusammen mit 26 andern Ländern wie Spanien, Frankreich, Kanada, Japan, Singapur und Namibia nur in Kategorie zwei. Eine Begründung dafür liefert der ITUC auch nach mehrmaligem Nachfragen nicht. Es dürfte aber mit dem Streikrecht zusammenhängen: Die Bundesverfassung gewährt dieses Recht zwar, schränkt es aber im gleichen Atemzug ein. So darf etwa ein Gesetz “bestimmten Kategorien von Personen den Streik verbieten”.

Unter den OECD-Ländern am schlechtesten schneiden die USA, Mexiko (beide Kategorie vier, Arbeiterrechte werden systematisch verletzt), Südkorea, Griechenland und die Türkei ab (alle Kategorie fünf, keine Rechte garantiert). Wobei es die Türkei sogar in den unrühmlichen Kreis der zehn schlechtesten Länder schafft.

Diese Möglichkeit schliesst Jaeggi nicht aus: “Natürlich kann es passieren, dass es auch dieses Mal anders kommt und die Rechte noch stärker eingeschränkt statt ausgeweitet werden”, räumt die Professorin ein. “Wirtschaftskrisen können dazu führen, dass sich die Leute sagen: ‘Die Lage ist derzeit so prekär, dass ich froh bin, wenn ich überhaupt noch einen Job habe’, bevor sie sich Gedanken zu Demokratie am Arbeitsplatz machen. Das senkt die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmenden.” Handkehrum sei etwa die Verhandlungsmacht des Pflegepersonals durch die Krise so gross wie schon lange nicht mehr.

In einem Interview mit dem Demokratie-Thinktank Common-Wealth äussert auch die Mit-Initiantin Ferreras Bedenken: “Kurzfristig bin ich nicht zuversichtlich.” Mehr Demokratie am Arbeitsplatz sei alles andere als ein Selbstläufer. Im Gegenteil: Die Pandemie verschlechtere die Situation für die Angestellten. Es brauche eine Willensleistung, um die an sich ungünstigen Aussichten zu überwinden. Ferrera ist aber überzeugt davon, dass dieser Wille obsiegen wird.

Dass die Krise nicht das einfachste Umfeld ist für mehr Demokratie am Arbeitsplatz ist, zeigt auch das eingangs erwähnte Beispiel von Globetrotter. Eine Anfrage, welche Erfahrungen das Reiseunternehmen mit der neuen Organisationsform gemacht habe, beantwortet Sprecherin Sandra Studer abschlägig: “Aufgrund der aktuellen Situation mit Kurzarbeit und Homeoffice fehlt uns im Moment der Erfahrungswert im ‘normalen’ Alltag.”

Untrennbar mit der Pandemie verbunden ist das Homeoffice. Welchen Effekt dieses Phänomen auf die Arbeitsplatz-Demokratie hat, ist unklar. Einerseits, da sind sich die meisten Fachleute einig, gibt es den Angestellten neue Freiräume. Stunden, die früher beim Pendeln im Zug oder im Auto verbracht wurden, können neu mit der Familie verbracht oder für ein Hobby genutzt werden.

Die Angestellten können somit über einen grösseren Teil ihrer Zeit selbst bestimmen. Auch den Arbeitsort können sie neu selbst wählen: Statt im Büro bespricht man Projekte auf dem Waldspaziergang, der Arbeitsplatz ist nicht mehr das Pult, sondern der Gartentisch. Die Beispiele zeigen, dass Homeoffice durchaus gewisse Mitspracherechte gewähren kann.

Eine Studie aus Neuseeland aus dem Jahr 2015 fand zudem anhand konkreter Beispiele, dass digitale Kommunikationskanäle wie Slack und Teams, die dank Homeoffice boomen, eine gute Grundlage für mehr Mitsprache am Arbeitsplatz sein können. Es verstärke allerdings eher die Mitspracherechte der Angestellten in so oder so schon demokratisch organisierten Unternehmen. Ein wenig demokratisches Arbeitsumfeld werde dadurch allerdings nicht demokratisiert.

Andererseits, warnen mehrere Fachleute, könne das Homeoffice auch den Leistungsdruck für die Angestellten erhöhen und zu mehr Überwachung seitens der Vorgesetzten führen. So schreibt etwa Indranil Roy, ein Berater für Personalfragen bei Deloitte, in einem Meinungsbeitrag für BBC, “im andauernden Homeoffice werden die Arbeitstage länger, die Grenze zwischen Arbeits- und Freizeit verschwimmt und das geistige Wohlbefinden der Angestellten leidet.” Das wiederum klingt nicht nach einem demokratischen Arbeitsumfeld.

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Und selbst wenn die Vorzüge überwiegen, ist das Homeoffice nicht ganz unproblematisch. Denn längst nicht alle Berufe bieten die Möglichkeit, zu Hause zu arbeiten. Ausgerechnet jene Jobs zum Beispiel, die während der Pandemie besonders in den Schlagzeilen standen – Pflege, Verkauf, Logistik – verlangen, dass die Angestellten vor Ort präsent sind.

Nicht selten sind es zudem die einfacheren Arbeiten, die nicht im Homeoffice erledigt werden können. Dann kommen ausgerechnet jene Angestellten nicht in den Genuss von Homeoffice, die in der Regel so oder so schon wenig Mitsprache am Arbeitsplatz haben. Oder wie es Philosophieprofessorin Rahel Jaeggi zusammenfasst: “Die Schere zwischen dem High-End-Kreativsektor auf der einen und dem Dienstleistungs-Prekariat auf der anderen Seite wird immer grösser.”

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