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Herzog & de Meuron: Architektur ist keine Maschine

Jacques Herzog und Pierre de Meuron an der Eröffnung der Elbphilharmonie in Hamburg.
Jacques Herzog (rechts) und Pierre de Meuron an der Eröffnung der Elbphilharmonie in Hamburg. Keystone/Christian Charisius

Die Ambitionen des Architekturbüros Herzog & de Meuron streben hoch in den Himmel und in die weite Welt hinaus. Eine Ausstellung an der Royal Academy in London zeigt, dass ihre Gebäude auch heilen wollen.

Weltweit beschäftigen Herzog & de Meuron derzeit sechshundert Personen, vierhundert davon in der Stadt Basel. Ihre Bauten prägen nicht nur dort die Skyline.

In Peking hat die Architekturfirma mit dem Nationalstadion vor fünfzehn Jahren eine Ikone für die Olympiade geschaffen, später im Hamburger Hafen mit der Elbphilharmonie ein Wahrzeichen für eine Stadt, auf der Station Chäserrugg im Toggenburg eine neue Silhouette für den Berg.

Gipfelgebäude auf dem Chäserrugg in der Schweiz
Das Gipfelgebäude auf dem Bern Chäserrugg im Kanton St. Gallen in der Schweiz. Keystone/Gian Ehrenzeller

Die beiden Gründungspartner des weltweit erfolgreichen Büros, Jacques Herzog und Pierre de Meuron, sind beide 1950 geboren. Sie waren also noch keine dreissig Jahre alt, als sie 1978 ihre Firma gründeten. Ab 1999 lehrten sie als ordentliche Professoren an der ETH Zürich, und 2001 wurden sie mit dem Pritzkerpreis geehrt, quasi dem Nobelpreis für Architektur.

Für die Vergabe änderte das Preiskomitee sogar die Statuten, bis anhin nämlich wurde der Preis nur an Einzelpersonen verliehen, doch auch diese Regel konnten die beiden aushebeln.

Dass sie hoch hinauswollten, war dem Duo seit Langem klar. Schon seit der Kindheit tauschten sie sich über alles Mögliche aus. Die Architektur war dabei nur eines ihrer Themen. Da gab es auch: Die Kunst, der sich vor allem Jacques Herzog, der knapp drei Wochen Ältere der beiden, anfangs seiner Karriere eingehend widmete, und die weiterhin integraler Teil ihres Schaffens ist.

Und: Die Naturwissenschaften, mit denen sich der minim jüngere de Meuron gerne beschäftigte und die angesichts der durch den Klimawandel an die Bauwirtschaft gestellten Herausforderungen eine immer grössere Rolle spielen.

Und es geht weiter

Seit einigen Jahren arbeitet das Büro an einer Nachfolgeregelung, die nun sukzessive implementiert wird. Seit 2009 pflegt die Firma ein Beteiligungsmodell, das nun so ausgebaut wird, dass die 14 Partner:innen weitere Aktienpakete kaufen können.

In der Öffentlichkeit äussert sich diese Strategie vor allem in der Sichtbarkeit der Büropartner, die den Erfolg und das Wachstum des Büros mitgetragen haben.

So sprach beispielsweise an der soeben eröffneten Londoner Ausstellung neben den beiden Firmengründern auch Christine Binswanger, seit 1994 Partnerin des Büros, die für die in der Ausstellung prominent präsentierten Bauten für das Gesundheitswesen verantwortlich ist.

Gut die Hälfte der drei Räume der Ausstellung an der Royal Academy of Arts sind der Architektur für das Heilen und Genesen gewidmet.

Der letzte widmet sich ganz dem neuen Zürcher Kinderspital, das im Herbst 2024 in Betrieb gehen soll. Es ist eher eine Stadt als ein Gebäude, eine flache, horizontale Struktur mit einer inneren Strasse, mit Höfen, Gärten und Orten der Begegnung.

Die Ideen für diese Organisation der Räume schöpfen auch aus den Erfahrungen mit dem vor gut zwanzig Jahren fertiggestellten Basler Rehabilitationszentrum, der Rehab, wo das Wohlbefinden nicht nur mit medizinischen Mitteln und Techniken, sondern auch mit denen der Architektur gefördert wird.

Architektur, die heilen kann

Die Architektur selbst sei in der Basler Rehab-Klinik zentraler Teil der Therapie, so die These der Filmemacherin Louise Lemoine, die mit ihrem Partner Ila Bêka gerade ihren zweiten Film zu einem Gebäude von Herzog & de Meuron abschliesst.

Der Austausch zwischen der Filmemacherin und den Architekten reicht zwei Jahrzehnte zurück: Die 51 Minuten von “Pomerol” porträtieren auf humorvoll leichte Weise die Mittagspause der Arbeiter auf dem von Herzog & de Meuron entworfenen Speisesaal des gleichnamigen französischen Weinguts.

Die filmisch eingefangenen Gebäude und Stadtlandschaften von Bêka und Lemoine sind derzeit im Schweizer Architekturmuseum in Basel in der Ausstellung “Homo UrbanusExterner Link” zu sehen (bis 27. August 2023).

Ausgehend von ihrer eigenen Geschichte erzählt Lemoine von den tristen und deprimierenden Spitalbauten, in die sie ihren an den Rollstuhl gebundenen Vater begleiten musste, und folgert: Dieses Gebäude hätte sein Leben wohl verlängert.

Der speziell für die Ausstellung in London produzierte Schnitt dauert 37 Minuten, auf die volle Version muss das Publikum noch einige Wochen warten.

Die Mitteilung ist klar: Architektur ist keine Maschine, sondern ein Teil der Umgebung, die den Körper bis in die äussersten Enden der Nervensysteme beeinflusst – und somit auch das Wohlbefinden, das Teil des Heilungsprozesses ist.

Die kürzeren Filmausschnitte im mittleren Raum der Ausstellung porträtieren eine Mehrzahl wichtiger Bauten des Büros in ihrem heutigen Alltag, dokumentieren also genauso die Spuren der Zeit wie auch die alltägliche Nutzung.

Dabei zeigt sich, dass die Gebäude dem Zahn der Zeit gut standhalten und auch nach Jahrzehnten der Nutzung ihre Schönheit behalten haben, und vor allem, dass sie bei allem Kunstanspruch alltagstauglich sind.

Installationsansicht der Ausstellung Herzog & de Meuron in der Royal Academy of Arts
Installationsansicht der Ausstellung Herzog & de Meuron in der Royal Academy of Arts, London (14. Juli – 15. Oktober 2023). David Parry/Royal Academy Of Arts

Von Räumen erzählen

Das Medium Film eignet sich besonders gut, alltägliche Geschichten zu erzählen, schliesslich können die gebauten Räume nicht ins Museum transferiert werden. Doch wie bei so vielem geben sich Herzog & de Meuron mit dieser einen Antwort auf die Frage, wie Architektur denn im Museum präsentiert werden könne, nicht zufrieden.

Grossformatige Fotografien und eine Vielzahl von Modellen bespielen den ersten Raum der Ausstellung und zeigen dabei Arbeitsprozesse und Interpretation gleichzeitig.

Die Aufnahmen von weltweit renommierten Fotografen, drei von Andreas Gursky und sechs von Thomas Ruff, zeigen klar den Kunstanspruch, der dieser Architektur innewohnt.

Die Vielfalt der Materialien und Massstäbe zeugen von Neugierde und Forschergeist, die in die kleinen genauso wie die grossen Häuser einfliessen: vom Stellwerk zwischen den Basler Bahngleisen bis zum olympischen Nationalstadion in Peking, das das Basler Büro gemeinsam mit dem chinesischen Dissidenten und Superstar der Kunstszene Ai Weiwei ersonnen hat.

Die Hauptrolle der Londoner Schau spielt schliesslich das Zürcher Kinderspital und setzt somit den Akzent auf das Bauen für Gesundheit und Heilung. Der letzte Raum der Ausstellung ist weder imposant noch virtuos, sondern so präzise und umsichtig orchestriert, wie es die Organisation eines Spitals einfordert.

Pläne, Baustellenaufnahmen, ein 1:1-Modell einer Zimmerwand und sogar ein Videospiel runden die Möglichkeiten ab, wie Architektur im Museum erlebbar gemacht werden kann. Der virtuelle Rundgang, der eben auch ein Videospiel ist, wie auch über QR-Codes abrufbare Augmented Reality-Raumerlebnisse bringen die zweidimensionalen Bilder und Pläne in die dritte Dimension des Raums.

Dass eine Firma mit mehreren Hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch einen entsprechenden Umsatz generiert, erschliesst sich in der Ausstellung nur indirekt, beispielsweise in der Plandarstellung des New North Zealand Hospital in Dänemark, das noch grösser als das Kinderspital sein wird, fast gleichzeitig geplant wurde und ebenfalls 2024 eingeweiht werden soll.

Oder in den Modellen verschiedener Wohnhochhäuser in Amerika und Asien oder des Triangle-Bürohauses in Paris, die in den grossen Vitrinen als spielerische Material- und Volumenstudien präsentiert werden. Nicht die Grösse, sondern die Atmosphäre der gebauten Räume entscheidet schliesslich über die Qualität und den Erfolg von Architektur.

Nein, antwortete Christine Binswanger in der Fragerunde anlässlich der Ausstellungseröffnung: Ihre Projekte seien im Allgemeinen nicht überteuert – und vor allem bei Spitälern lohne sich die Investition, denn die Baukosten seien etwa so hoch wie ein bis zwei Jahre Betrieb.

Die Haltung der Ausstellung ist klar: Spital- und Rehabilitierungszentren sind nicht nur Grossaufträge für leistungsstarke Firmen, es ist auch eine Aufgabe, in der die Architektur mit sinnvollen Abwicklungen und einer das Wohlbefinden fördernden Atmosphäre einen Unterschied machen kann.

Mehr als Le Corbusier

Unsere Sommerserie porträtiert einflussreiche und verquere Schweizer Architekt:innen der letzten hundert Jahre. Wie haben sie prägend über den Raum nachgedacht? Wo auf der Welt haben sie Spuren hinterlassen? Und: Welche Bauten beeindrucken uns noch heute?

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