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Frischer Geist in der Schweizer Genossenschaft-Szene

Band Alois
Der Pop der Band Alois ist treibend - auch dank Synthesizer-Klängen. Paul Märki

Immer wieder entscheiden sich neue Unternehmen für die Form der Genossenschaft. Oft aus Idealismus. Ein Musiklabel, ein Mitmachladen und ein Lieferservice im Porträt.

Genossenschaften sind wichtig in der Schweizer Wirtschaft. Doch Jungunternehmer:innen, die ein Start-up aufbauen, gründen kaum je eine Genossenschaft. Genossenschaften gelten als behäbig.

Sie gehen seltener Konkurs als etwa Aktiengesellschaften und sind stabil, wenn die Wirtschaft unsichere Zeiten durchmacht. Doch der Genossenschaftsmonitor 2020 von Idée Cooperative hält fest, dass die Schweizer Bevölkerung Genossenschaften zwar vertraut, sie aber als “wenig innovativ” wahrnimmt.

Dies gilt auch für Nachwuchsunternehmer:innen: Der Genossenschaftsmonitor erkennt ein “Start-up-Problem”. Wer reich werden will, gründet eine AG. 

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Benjamin von Wyl

Was haben Sie in Ihrer Genossenschaft erlebt?

Mindestens 12% der Weltbevölkerung sind Mitglied einer Kooperative – Sie auch? Erzählen Sie uns Ihre Geschichte.

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SWI swissinfo.ch stellt drei jüngere und junge Genossenschaften vor, die diesem Trend entgegenstehen und hat nachgefragt, warum sie eine Genossenschaft sind:

Der Mitmachladen “Güter”

Der Mitmachladen “Güter” sitzt in einer Berner Wohnstrasse. Die Regale sind gefüllt mit Lebensmitteln und Hygieneprodukten.

Fässer voller Reis und Pasta warten auf Kund:innen und zwei Genossenschafter:innen stapeln neu geliefertes Gemüse.

Einige Milchflaschen im Kühlschrank sind zum halben Preis zu haben. Die Aktionskleber sind das einzige, was an einen herkömmlichen Supermarkt erinnert. Der Schweizer Detailhandel wird von Genossenschaften dominiert, doch beim Einkauf ist einem das selten bewusst.

Wer bei “Güter” einkauft, kann das nicht ohne Bewusstsein für den Idealismus dahinter: Hier darf nur einkaufen, wer mitarbeitet. Im Monat ist das eine Schicht von zwei bis drei Stunden.

Die Motivation zum Mitmachen ist weltbildlich.

Nicholas Pohl von “Güter” sagt: “Unser grosses Anliegen ist es, einen Beitrag zu leisten, die Wirtschaft zu demokratisieren.” In einer Genossenschaft wie der ihren werde das gelebt. “Bei uns kann man erleben, wie schön Kooperation sein kann.”

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“Güter” will die Kosten, die im Vertrieb entstehen, durch ehrenamtliche Arbeit vermeiden und so ein ähnliches Sortiment wie ein Bioladen zu günstigeren Preisen anbieten.

Bei manchen Produkten, etwa Hygieneartikeln, gelingt das. Bei anderen ist der Preisspielraum eher klein – besonders bei den beschränkten Mengen, die der Mitmachladen einkauft.

Über alle Produkte hinweg spare man momentan etwa 10 bis 20% im Vergleich zum Bioladen, schätzt Pohl. Zudem kann ein Prozentsatz des Einkaufs als Guthaben an einkommensschwächere Genossenschaftsmitglieder gespendet werden.

“Güter” hat seinen Betrieb erst gestartet und findet vieles gerade noch heraus. Vorbild des Mitmachladens in Bern sind Kooperativen in den USA, vor allem die Park Slope Food Coop in New York.

“Genossenschaften stehen für uns für demokratische Grundwerte und für wirtschaftliche Selbsthilfe”, sagt Pohl. “Aber wir sehen uns nicht in erster Linie als Teil einer Genossenschaftsbewegung.”

Menschen ziehen ein Haus gemeinsam.

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Die Schweiz: Eine Genossenschaft

Die Schweiz ist ein Land der Genossenschaften. Das Kooperations-Prinzip prägt die Wirtschaft und ist die Wurzel ihrer Politik.

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Die Genossenschaftsform sei “leider kein Gütesiegel”. Die Realität zeige, dass “auch Genossenschaften grosse und auf Profit ausgerichtete Unternehmen werden können”.

Mit den grossen Schweizer Detailhandelsunternehmen hat der Mitmachladen nichts zu tun.

Red Brick Chapel: Die Genossenschaft als Songschmiede

Die bürgerliche “Neue Zürcher Zeitung” bezeichnete Red Brick Chapel einmal als “Selbsthilfeorganisation”. Trotz des Namens hat das Musiklabel nichts mit der Heilsarmee oder anderen Kirchen zu tun.

Eher handelt es sich um eine Kapelle der empfindsamen Musik.

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Red Brick Chapel ist ein Musiklabel, das auch einige Erfolge mit einer gewissen Reichweite auf sich vereint.

So erreicht etwa die Indieband Mnevis mit ihren Songs über Streamingplattformen alleine in Deutschland ein Millionenpublikum, ebenso der Folk-Sänger Long Tall Jefferson.

Die Popband Alois landete gar mal auf einer wichtigen US-amerikanischen Playlist, die den Weg zu einem grösserem Publikum öffnete.

Als einziges Label der Schweiz ist Red Brick Chapel als Genossenschaft organisiert. “Das ist der grösste Unterschied zu fast allen Musiklabels in Europa: Das Unternehmen gehört den Musiker:innen und Produzierenden”, sagt Christian Müller von Red Brick Chapel.

Damit können die Künstler:innen mitgestalten, wie sich das Unternehmen entwickelt, aber auch die Kontrolle über ihre Musik bewahren. “Sie entscheiden, was mit ihren Werken nach der Produktion passiert und wie sie finanziell verwertet werden.”

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Am Anfang stand nicht die Überzeugung für Genossenschaften, sondern der Wille, die Kontrolle zu bewahren und zu verteilen. Doch heute ist Müller ein Genossenschaftsenthusiast: “Für uns kann ich mir keine andere Form vorstellen. Alles andere wäre Ideologie.”

Wenn genug Menschen mit gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen zusammenkommen, gebe es für ihn “nur eine passende und logische Rechtsform dafür”: Die Genossenschaft.

Die meisten unabhängigen Musiklabels haben im Streaming-Zeitalter kaum Mitarbeiter:innen. Für die Eintragung als Genossenschaft braucht es aber  mindestens sieben Beteiligte.

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Postkarte Frau mit Korb

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Genossenschaften: Weltbewegung für den Frieden

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Das Wort Genossenschaft ist im Schweizer Alltag omnipräsent. Vergessen ging, dass dahinter einmal eine weltumspannende Friedensbewegung steckte.

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Darin sieht Müller den Hauptgrund, weshalb Red Brick Chapel eine Ausnahme darstellt.

Konfrontiert mit dem “Start-up-Problem”, das Genossenschaften in der Schweiz haben, verweist Müller auf die Freiheit bei den Statuten. Wie träge oder eben agil eine Genossenschaft ist, ebenso ob sie durch und durch demokratisch ist, hänge stark von den Statuten ab.

Müller verbindet die Schweiz nicht direkt mit Genossenschaften, sondern denkt, wie die Leute vom Mitmachladen, eher an “hippe Food-Kooperativen” in den USA.

In der Schweiz fallen ihm “nur die ganz Grossen” ein.

Diese sind für ihn “nicht mehr wirklich als Genossenschaften erkennbar” und haben mit seiner Idee von Genossenschaften nichts zu tun.

Der jugendliche Klassiker: Veloblitz

Die oft jungen Menschen in leuchtenden Tenüs sind ein gewohntes Bild in Schweizer Städten: Velokurier:innen. In Innenstädten lohnt es sich manchmal wichtige Pakete per Velo zu versenden.

Während in jüngerer Zeit internationale Konzerne Essenslieferdienste auf zwei Rädern aufbauten, die nicht für faire Arbeitsbedingungen bekannt sind, sind in der Schweiz die Velolieferdienste der ersten Generation oft als Genossenschaften organisiert.

So auch der Veloblitz in Zürich, wo die 120 Mitarbeiter:innen in schwarzgelben Tenüs unterwegs sind. Geschäftsführer Simon Durscher war nicht dabei, als das Velokurierunternehmen in den 1980er-Jahren in einer Zürcher Wohngemeinschaft seinen Anfang nahm.

“Vom Gründer weiss ich, dass er nie eine eigene Firma aufbauen und besitzen wollte. Er hat das Unternehmerische als Potenzial gesehen, aber wollte die Verantwortung von Anfang an verteilen.”

Durscher sagt, er verstehe, weshalb Genossenschaften verglichen mit anderen Unternehmen als träge gelten.

“In den 10 Jahren beim Veloblitz habe ich schon die unterschiedlichsten Perspektiven darauf gehört, was das Unternehmen ist und soll. Im Veloblitz kommen Leute zusammen und erschaffen sich einen Arbeitgeber.” 

Entsprechend gebe es viele Meinungen dazu, was der Veloblitz ist.

Vom Grundgedanken her sollen beim Velokurierunternehmen die Mitarbeitenden auch die Mitbesitzenden sein. Es gibt aber auch Ehemalige, die Genossenschafter:innen bleiben und Mitarbeitende, die nicht Mitglied werden. Deren Meinungen nehme man deswegen nicht weniger ernst.

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Dorfplatz der Siedlung Weissenstein, historisches Foto

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Von Notwohnungen zu Mittelstandssiedlungen

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Eisenbahner-Baugenossenschaft Bern (EBG) feiert heuer ihr 100-jähriges Bestehen. Eine Revue der Geschichte der Baugenossenschaften.

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Laut dem Geschäftsführer sind die Hierarchien beim Veloblitz flach und die Verantwortung ist verteilt. “Aber hier herrscht keine Basisdemokratie”, sagt Durscher, “Die bringt uns nichts. Nicht alle können bei allem mitreden.”

Besser als in ein grosses Plenum sei es, Aufgaben und Entscheidungen in kleine Teams zu verteilen.

Einen Grund für die wenigen Start-ups erkennt Durscher auch in der Schranke von sieben Beteiligten zur Gründung einer Genossenschaft.

Aber Genossenschaften haben für Gründer:innen auch einen pragmatischen Vorteil: “Anders als für eine AG oder eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung brauchst du kein Startkapital. Genossenschaften ermöglichen Leuten mit weniger Geld die Geschäftstätigkeit.”

Editiert von David Eugster

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