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50 Jahre Jagd auf unendlich Kleines

Jede Materie des Universums, von den Sternen bis zu unserem Körper, ist aus Elementarteilchen zusammengesetzt. NASA

In 50 Jahren haben die Physiker des CERN bei Genf viel über die unendlich kleinen "Kernchen" gelernt, aus denen alles besteht. Und warfen viele Fragen über die Kräfte auf, welche diese bewegen.

Dafür erhielten sie drei Nobelpreise. Und die Reise geht weiter, bis ins Herz der Antimaterie und der schwarzen Energie.

“Das CERN hilft uns, das Universum zu verstehen, woraus es besteht, woher es kommt und auch ein wenig, wohin es geht”, betont James Gillies, Sprecher des weltweit grössten Labors für Teilchenphysik.

Als das CERN gegründet wurde, hörte das Wissen über die Materie beim Atomkern auf. Zwar ging die physikalische Theorie bereits von der Existenz von Elementarteilchen aus, die kleiner waren als Protonen und Neutronen, aber ihre Eigenschaften und ihr Verhalten konnte man noch nicht studieren.

Es ist auch bekannt, dass es neben der Materie eine Antimaterie gibt. Also “umgekehrte” Atome, in denen die Elektronen positiv und die Protonen negativ geladen sind. Diese Theorie ist jedoch noch nicht bestätigt.

Das ultimative Mikroskop

In der Teilchenphysik wird mit Objekten gearbeitet, die so klein sind, dass sie nicht einmal mit dem stärksten Mikroskop erfasst werden können. Ein Atomkern sei derart winzig, “er hat eine Grösse von zehn hoch minus fünfzehn Metern”, ruft Gillies in Erinnerung. “Und die Teilchen, die wir studieren, sind noch kleiner.”

Diese Teilchen gehorchen seltsamen Gesetzen, die in keinem Zusammenhang stehen mit jenen der sichtbaren Welt. Ein Teilchen lebt zum Beispiel nur einen Drittel eines Millionstels von einer Millionstelsekunde, bevor es sich in zwei leichtere Teilchen aufteilt.

Die Teilchen sind dauernd in Bewegung. Man kann sie auch als Wellen sehen. Und Wellen hinterlassen Spuren. Ähnlich einem Flugzeug, das so hoch fliegt, dass das Auge nur den Kondensationsstreifen am Himmel sieht.

So funktionieren die Teilchenbeschleuniger im CERN. Mittels riesiger Magnete bringt man Protonen-, Neutronen- oder Elektronenstrahlen in einer luftleeren Röhre fast mit Lichtgeschwindigkeit in eine Umlaufbahn und beobachtet die Spuren, welche der Zusammenprall dieser Objekte miteinander oder mit Zielobjekten hinterlässt.

Die Beschleuniger können auch Teilchen herstellen. Seit dem berühmten E=MC2 von Einstein wissen wir, dass Materie in Energie umgewandelt werden kann und umgekehrt. Und die Energie gewisser Kollisionen ist so gross, dass sie Materie erzeugen kann. Oder Antimaterie.

Auf der Suche nach der Kraft

Die erste Episode der grossen Suche des CERN spielt sich im Jahr 1665 ab, als Isaac Newton die Theorie der Schwerkraft entdeckte.

Später fand man drei weitere Kräfte, die erklären, warum Materie heute ein zusammenhängendes Ganzes ist und nicht mehr eine formlose “Teilchensuppe”, wie ganz am Anfang.

Das sind die elektromagnetische Kraft (unter anderen für Elektrizität, Licht und chemische Reaktionen verantwortlich), die schwache Kraft (die im radioaktiven Prozess am Werk ist, welcher die Sterne zum Leuchten bringt) und die starke Kraft (die Atomkraft, welche die Teilchen zusammenhält, die den Atomkern bilden).

Der Traum der Physiker ist es, die vier Kräfte zu vereinen und damit zu beweisen, dass sie nur unterschiedliche Formen der gleichen Energie sind. Seit einem halben Jahrhundert befasst sich das CERN mit dieser Problematik.

Der neue Gral der Physik

Doch noch eine andere Frage reizt die Physiker. “Unsere Standardtheorie funktioniert sehr gut, wenn wir davon ausgehen, dass die Teilchen keine Masse haben”, erklärt Gillies. “Wir haben aber den Beweis, dass sie eine haben. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, warum.”

Die Antwort heisst “Higgs-Boson”, nach dem Briten Peter Higgs, der deren Existenz feststellte.

Am 2. November stellt das CERN seinen grossen Beschleuniger LEP ab, in dem die Teilchen seit 16 Jahren zirkulieren. In den letzten Monaten brachte man die Maschine an ihre Grenzen und glaubte, eine Spur des Higgs-Bosons gefunden zu haben.

Das erwies sich allerdings als falsch. Die Suche nach dem neuen Gral der Physik wird deshalb auf 2007 verschoben. Dannzumal soll der LHC (der Grosse Hadron-Speicher-Ring) seine Arbeit aufnehmen, dank dem man die Materie noch gründlicher untersuchen kann als bisher.

Die neue Maschine wird im gleichen Tunnel (mit 27 Kilometer Umfang) gebaut, in dem der LEP untergebracht ist. Sie wird 70 Mal stärker sein, um die 3,2 Mrd. Franken kosten, und es wird die weltweit einzige Maschine dieser Art sein.

Beginn einer neuen Ära

Und der LHC wird nicht nur zur Suche nach dem Higgs-Boson eingesetzt. Die Physiker werden damit die Antimaterie weiter studieren und sich verstärkt mit der schwarzen Materie oder der schwarzen Energie befassen.

Heute geht man davon aus, dass wir von dem, was im Universum existiert, nur 4 bis 5% mit blossem Auge sehen können. Das Vorhandensein von unendlich grossen Mengen an unsichtbarer Materie würde namentlich die Flucht von Galaxien und die Tatsache erklären, dass diese sich immer schneller voneinander entfernen.

Man weiss bereits, dass ein Teil dieser schwarzen Materie aus toten Sternen (schwarzen Löchern) besteht, aus Himmelskörpern, die so dicht sind, dass sie sogar das Licht “schlucken”, das ganz nah an ihnen vorbeigeht.

Aber diese Erklärung reicht nicht aus. Es muss im Universum bisher unbekannte, relativ schwere Teilchenwolken geben. Es gibt sie seit den Anfängen der Welt, und sie haben sich nie zur Bildung komplexerer Objekte vereinigt.

“Mit dem LHC könnten wir genügend Energie haben, um solche Teilchen zu schaffen”, hofft James Gillies. “Das wäre der Beginn einer neuen Ära von Entdeckungen.”

swissinfo, Marc-André Miserez
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)

Der Europäische Rat für Nuklearforschung wurde 1954 gegründet. Er leitet das bei Meyrin (Genf) gelegene Europäische Labor für Teilchenphysik (Centre européen pour la recherche nucléaire – CERN).

3’000 Personen arbeiten im Labor, aber das CERN ist auch das Herz eines Netzwerkes von rund 500 Universitäten in 80 Ländern.

So haben 6’500 Forschende Zugang zu seinen Einrichtungen, das ist die Hälfte aller Teilchenphysikerinnen und -physiker der Welt.

Um Erfahrungen innerhalb des Netzes auszutauschen, erfanden Informatiker am CERN zu Beginn der 1990er-Jahre das World Wide Web.

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