
US-Zölle: «Unsicherheit ist immer schlecht für das Geschäft»

Die Konkurrenz aus anderen Ländern nimmt zu. Einige Branchen mit geringer Wertschöpfung hätten die Schweiz bereits verlassen, sagt Sébastien Landerretche, Präsident des Schweizerischen Rohstoffhandelsverbands Suissenégoce.
Die globalen Schwergewichte im Rohstoffhandel unterhalten wichtige Niederlassungen in der Schweiz: Glencore, Gunvor, Trafigura, Cargill und Louis Dreyfus. Doch in den letzten zehn Jahren wurde Genf als internationaler Handelsplatz zunehmend von Konkurrenten wie Dubai oder Singapur herausgefordert, die unter anderem Steuererleichterungen und weniger Regulierungen bieten.
Swissinfo sprach mit Sébastien Landerretche in Genf am Rand der weltweit grössten Konferenz für Rohstofftransporte, Geneva DryExterner Link – das Gespräch fand also vor dem 7. August statt, also bevor die US-Zölle von 39% auf Schweizer Importe in Kraft traten.
Landerretche erörterte, wie die Schweiz wettbewerbsfähig bleiben kann und welche Anstrengungen unternommen werden, um mehr Transparenz in der Branche zu gewährleisten.
Landerretche ist globaler Leiter des Bereichs Seefracht bei Louis Dreyfus. Im Januar 2024 wurde er zum Präsidenten von Suissenégoce gewählt, dem Dachverband der Schweizer Rohstoffhandelsunternehmen.
Swissinfo: Was sind Ihre Prioritäten als Präsident von Suissenégoce?
Sébastien Landerretche: Meine Priorität ist es, dafür zu sorgen, dass die Schweiz für Handelsunternehmen attraktiv bleibt. Viele Jahre lang genoss das Land einen historischen Vorteil, aber andere Wirtschaftszentren haben bedeutende Fortschritte gemacht.
Singapur beispielsweise verfolgt eine sehr proaktive Politik, um Handelsunternehmen anzulocken, ebenso wie die Vereinigten Arabischen Emirate. London hat sein Spitzen-Knowhow namentlich im Finanzbereich bewahrt, während Amsterdam seine Position besonders seit dem Brexit gestärkt hat, vor allem im Energiehandel.
Die Schweiz und vor allem Genf dürfen sich nicht länger auf ihren Lorbeeren ausruhen. Wir müssen kontinuierlich sicherstellen, dass unsere Rahmenbedingungen attraktiv bleiben.
Glücklicherweise verfügt unser Land nach wie vor über starke Trümpfe: die Nähe zu den politischen Entscheidungsträgern, eine leistungsfähige Infrastruktur, ein vielfältiges Netzwerk von Unternehmen in unserem Sektor und anerkannte Fachkompetenz, besonders im Bereich Handelsfinanzierung.

Es heisst häufig, dass sich der Schweizer Handelscluster – vor allem in Genf – ohne direkte staatliche Interventionen entwickelt habe.
Der Erfolg des Rohstoffhandels in der Schweiz beruht auf einem fein austarierten Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Freiheit und einem angemessenen regulatorischen Rahmen. Dieser ist weder das Ergebnis zentraler staatlicher Planung noch einer aktiven Industriepolitik, sondern eines Ökosystems, das in der Lage ist, Unternehmen anzuziehen, die ein neutrales, verlässliches und wettbewerbsfähiges Umfeld suchen.
Der Beitrag des Staats besteht darin, die Qualität dieser Rahmenbedingungen sicherzustellen – nicht zuletzt durch qualifizierte Arbeitskräfte. Der Master of Science in Commodity TradingExterner Link, der von der Universität Genf in Partnerschaft mit Suissenégoce angeboten wird, spielt hier eine zentrale Rolle.
Singapur setzt auf niedrige Steuern, um Unternehmen anzuziehen. Wie kann die Schweiz wettbewerbsfähig bleiben?
Die Unternehmensbesteuerung ist sicherlich ein wichtiger Faktor, aber nicht der einzige. Singapur bietet ein stimmiges Paket von steuerlichen und nicht-steuerlichen Anreizen, darunter Innovationsförderung und erleichterte Niederlassungen.
Darüber hinaus verringert das Inkrafttreten der neuen, von der Schweiz übernommenen OECD-Regeln, die einen Mindeststeuersatz von 15 Prozent für grosse multinationale Unternehmen vorschreiben, den Steuervorteil, den Unternehmen geniessen.
Vor diesem Hintergrund ist es unerlässlich, dass der Bund und die Kantone die Einkommenssteuern senken. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen wir die besten internationalen Talente anziehen. Wenn die Kaufkraft von Fachleuten im Ausland deutlich höher ist, werden sie es sich zweimal überlegen, in die Schweiz zu ziehen, besonders in die Kantone rund um den Genfersee, wo die Einkommenssteuern höher sind.
Und wenn der Tag kommt, an dem unsere Unternehmen diese Talente hier nicht mehr finden, werden sie an Orte ziehen, wo es diese Spitzenkräfte gibt.
Basiert der Schweizer Handelssektor hauptsächlich auf einigen wenigen sehr grossen Unternehmen?
Keineswegs! Rund 80 Prozent der Suissenégoce-Mitglieder sind kleine und mittelgrosse Unternehmen. Diese sind oft hochspezialisiert und spielen eine Schlüsselrolle in der Lieferkette.

Auf Handelsfinanzierungen spezialisierte Banken wie die ING Bank und die Genf Kantonalbank sind die Hauptstützen des Sektors. Allerdings schwindet ihr Einfluss in Genf, unter anderem aufgrund der hohen Kosten in der Schweiz und der Tatsache, dass der Schweizer Markt von Ländern der Europäischen Union aus bedient werden kann. Bedroht dies die Rolle Genfs im Handelsbereich?
Ja, denn auf Handelsfinanzierungen spezialisierte Banken sind das Herzstück des Sektors. In der Schweiz ist ihr Knowhow nach wie vor vorhanden, auch wenn ihre Zahl zurückgegangen ist.
Das ist bedauerlich, denn ihre lokale Präsenz ist von unschätzbarem Wert. Angesichts der strengen regulatorischen Vorschriften der Schweiz in Bezug auf Kapital und Liquidität könnten einige Banken es jedoch vorziehen, vom Ausland aus mit in der Schweiz ansässigen Unternehmen zusammenzuarbeiten.
Wächst oder schrumpft der Schweizer Handelssektor insgesamt?
Zu diesem Thema werden gegenwärtig noch detaillierte Statistiken erhoben, aber das Bundesamt für Statistik arbeitet daran und wird voraussichtlich Ende 2027 Ergebnisse vorlegen.
Wir können jedoch sagen, dass dieser Sektor insgesamt stabil geblieben ist, mit einigen strukturellen Anpassungen. Einige Bereiche mit geringer Wertschöpfung [z.B. Backoffice-Tätigkeiten, A.d.R.] haben die Schweiz verlassen, aber die Entscheidungsträger sind nach wie vor hier.
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Der Sektor wurde oft wegen seiner mangelnden Transparenz kritisiert. Heute ist er stärker reguliert. Halten Sie das für eine gute Sache?
Die Regulierung wird immer komplexer, sei es auf nationaler, europäischer oder globaler Ebene. Unser Sektor ist mittlerweile stark reguliert, von den Erzeugerländern bis hin zu den Bankgeschäften.
Transparenz und Rückverfolgbarkeit sind heute die Norm. Wir müssen also ein Gleichgewicht finden zwischen wirtschaftlichen Erfordernissen auf der einen Seite und sozialen sowie ökologischen Erwartungen auf der anderen Seite.
Diese regulatorische Entwicklung schafft auch Chancen: Digitalisierung, Blockchain, künstliche Intelligenz. Dennoch bleiben trotz des technologischen Fortschritts die menschlichen Beziehungen und das Vertrauen das Herzstück unseres Geschäfts.
Rohstoffhändler haben in der Öffentlichkeit zuweilen noch einen schlechten Ruf, nicht zuletzt aufgrund spektakulärer Korruptionsfälle. Was tun Sie, um die Transparenz in der Branche zu erhöhen?
Das Wort «Händler» wird in unserer Branche oft mit «Spekulant» gleichgesetzt, aber unsere Rolle ist eine ganz andere: Wir bevorzugen den Begriff «Händler», weil wir in erster Linie Logistiker und Risikomanager sind.
Ein Händler ist die Person, die das Produkt zur Kundschaft bringt, wo auch immer auf der Welt diese sich befindet – zum richtigen Zeitpunkt, in der richtigen Qualität und in der richtigen Währung.
Wir gewährleisten den Transport und die Verfügbarkeit physischer Rohstoffe auf der ganzen Welt, selbst in Krisenzeiten: Pandemie, Krieg, Blockade des Suezkanals usw.
Um den Menschen unsere Arbeit besser verständlich zu machen, haben wir Commoditieshub.chExterner Link gestartet, eine Informationsplattform für die breite Öffentlichkeit, die in einfachen Worten die grundlegende Rolle unseres Sektors erklärt.

Wie steht es mit den geopolitischen Unsicherheiten, einschliesslich der von US-Präsident Donald Trump verhängten oder geplanten Zölle?
Unsicherheit ist immer schlecht für das Geschäft. Konflikte, internationale Sanktionen, logistische Störungen und Handelsspannungen sind häufiger geworden und haben unsere Arbeit komplizierter gemacht.
Die US-Zölle haben zu grosser Unsicherheit im globalen Handelsverkehr geführt. Letztendlich werden namentlich die amerikanischen Konsumentinnen und Konsumenten den Preis dafür zahlen.
Kann die direkte Demokratie der Schweiz mit ihren wiederkehrenden Volksinitiativen – wie beispielsweise der Konzernverantwortungs-Initiative, die 2020 von den Stimmberechtigten knapp abgelehnt wurde – Handelsunternehmen davon abhalten, in der Schweiz zu bleiben?
Die direkte Demokratie ist ein wertvolles Instrument. Sie kann manchmal Unsicherheit schaffen, aber sie fördert vor allem den Dialog und die Transparenz. Jede Debatte bietet uns die Gelegenheit, unsere Rolle, unsere Praktiken und unseren Beitrag zu erklären.
Wir müssen jedoch der Vereinfachung des politischen Diskurses und der Desinformation entgegenwirken, namentlich in den sozialen Medien.
Haben die Sanktionen gegen Russland einige Schweizer Handelsunternehmen dazu veranlasst, ihren Standort zu verlegen, speziell nach Dubai?
Handelsunternehmen, auch KMU, haben Niederlassungen in Singapur, Dubai, London, Amsterdam und Houston. Die Sanktionen gegen Russland haben vor allem zur Verlagerung von Mitarbeitenden geführt, namentlich nach Dubai.
Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen mithilfe von Deepl: Petra Krimphove/raf

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