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Als in der Stadt St. Gallen nur noch eine Mauer half

Die politischen und religiösen Gegensätze wuren in St. Gallen so gross, dass die einzige Lösung im Bau einer Mauer bestand. Wie in Berlin oder Belfast. Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St.Gallen

Nicht nur Berlin war durch eine Mauer geteilt, sondern auch die Stadt St. Gallen in der Ostschweiz. Eine andere Geschichte, eine andere Ära – aber durchaus ähnliche politische Motive.

Mauern dienten und dienen immer wieder als politische Lösung. Am prominentesten trennte der “antifaschistische Schutzwall” während des Kalten Krieges die Stadt Berlin. Heute sind noch Belfast und Nikosia durch eine Mauer geteilt.

Aber schon in der Phase der Reformation wurden Mauern gebaut, um Katholiken und Reformierte zu trennen. So auch in der Schweizer Stadt St. Gallen. Hier separierte von 1567 bis 1807 eine Mauer die reformierte Stadt vom katholischen Kloster. Heute ist von dieser Mauer praktisch nichts mehr zu sehen. Bloss ein 64 Meter langes Stück steht heute noch an der Zeughausgasse.

Aber wie kam es dazu? Ein Blick in die Geschichte: St. Gallen, die grösste Stadt der Ostschweiz, war zu Beginn der Reformation ein wichtiges Zentrum. Die Textilindustrie florierte, und die Abtei St. Gallen – heute Unesco-Weltkulturerbe – verfügte über viel politische und wirtschaftliche Macht.

Brunnen mit dem Porträt des Bürgermeisters Joachim Vadian (1484 – 1551). Er machte St. Gallen zu einer Hochburg der Reformation. © Keystone / Christian Beutler

Die politische Abnabelung der Stadt vom Kloster erfolgte bereits im 14. Jahrhundert, sie wurde dann während der Reformation durch die konfessionelle Trennung aber verstärkt. Besonders unter dem Bürgermeister Joachim Vadian (1484-1551) wurde St. Gallen zu einer Bastion der Reformation. Das katholische Kloster stand nun inmitten einer protestantischen Stadt. 

Die Jungfrau Maria in einem Bordell

Luthers Ideen fielen auf fruchtbaren Boden. Man stellte die katholischen Prediger in Frage, es blieb aber nicht nur bei Worten. Es kam zu einem starken Anstieg von Gewalttaten und Vandalenakten gegen die katholische Kirche. Fast unglaubliche Gerüchte kursierten. Etwa jenes, dass einer der Bürger persönlich eine Marienstatue aus einer der Kirchen gestohlen und als Zeichen des Protests in eines der städtischen Bordelle gebracht habe.

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Urkundliche Belege für solche Aktionen sind in den Archiven noch nicht gefunden worden, aber eines ist klar: Das Verhältnis zwischen weltlicher und kirchlicher Obrigkeit, zwischen Stadt und Kloster, war mehr als angespannt. Hauptgegner der neuen religiösen Strömungen war der Pfarrer Wendelin Oswald, der 1541 in Einsiedeln starb.

1524 verbot ihm die Stadt St. Gallen sogar, ihr Territorium zu betreten, da die weltliche Obrigkeit nicht mehr für Oswalds persönliche Sicherheit garantieren konnte. Schliesslich waren seine Predigten eine Form harscher Kritik an der städtischen Obrigkeit von St. Gallen, die angeblich nicht in der Lage war, den Pöbel in Schach zu halten, der sich gar nicht für die neue Lehre, sondern fürs Plündern und Brandschatzen interessiere.

1526 liessen einige protestantische Prediger St. Gallens ein Flugblatt drucken, in dem sie ihrem Widersacher Oswald nicht nur die Grundlagen der protestantischen Lehre zu vermitteln versuchten, sondern gleichzeitig die Bürger der Stadt darüber aufklärten, dass Aufruhr und Rebellion, geschehe er auch im Namen der neuen Lehre, noch immer antichristlich sei.

1529 wiederholte auch der Bürgermeister Joachim Vadian diesen Aufruf zur Mässigung. Ohne Erfolg. In den nächsten Jahren eskalierte die Gewalt regelmässig, ohne Aussicht auf einen Ausweg oder äusseren Beistand.

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Pattsituation

Sowohl die Stadt St. Gallen als auch das Kloster St. Gallen standen unter dem Schutz des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches: Es herrschte sozusagen ein Gleichgewicht des Schreckens. Das Problem war jedoch, dass St. Gallen im Gegensatz zu Zürich nicht genug eigenes Land zur Verfügung hatte, und unmittelbar hinter seinen Mauern begannen bereits die Klosterländereien.

Die Mauer, die in St. Gallen die gewalttätigen gegnerischen Lager trennte, wurde 2010 fast komplett geschleift. Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St.Gallen

1531, nach der Niederlage der Protestanten im so genannten Zweiten Kappelerkrieg, konnte das Kloster seine materiellen Besitztümer zurückgewinnen und seine politische Macht vergrössern. Aber auch die Stadt St. Gallen stärkte ihre Position. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde ihr Territorium, das lediglich vier Quadratkilometer gross war, von etwa 6000 Menschen bewohnt.

Obwohl die Stadt keine nennenswerten steuerpflichtigen Besitztümer ausserhalb eigener Mauern besass, verfügte sie dennoch über genügend Kapital, internationale Verbindungen und technisches Knowhow, um ein starker politischer und wirtschaftlicher Akteur zu sein.

Einen Konflikt verhindern

Im Jahr 1564 starb der Abt des Klosters, am 16. Oktober 1565, dem Festtag von St. Gallen, sollte seinem Nachfolger der Segen erteilt werden. Am selben Tag aber sollte auch in der Stadt eine wichtige landwirtschaftliche Herbstmesse stattfinden.

Um Zusammenstösse und Unruhen zu vermeiden, sagte die Stadtverwaltung nicht nur die Messe am Vortag ab, sondern verbot den Bürgern auch den Besuch des Klosters und erhöhte die Sicherheitsvorkehrungen vor den Stadttoren.

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Das katholische Kloster St. Gallen stand sozusagen unter Blockade, da es nur über die evangelische Stadt erreicht werden konnte. Der neue Abt, Ottmar Kunz, hatte allen Grund, unzufrieden zu sein. Er appellierte daher an die Tagsatzung, das Schweizer Ur-Parlament, dem Kloster ein eigenes Tor – einen Check-Point sozusagen wie im geteilten Berlin – in der Stadtmauer zu gewähren, durch das die Bewohner direkt und ohne Einwilligung der Stadt das Klostergebiet betreten konnten.

Das Wiler Abkommen und die Mauer

Im Jahr 1566 unterzeichneten Stadt und Kloster den Wiler Vertrag. Die Stadt wie auch das Kloster sollten sich nun unabhängig voneinander entwickeln: Jeder konnte, wie es in den Dokumenten der damaligen Zeit hiess, “sin eigen regiment für sich selbs” haben. Die Stadt musste dem Kloster keinen Tribut mehr zahlen, im Gegenzug verzichtete sie auf ihr Recht, in einem klösterlichen Gerichtsorgan vertreten zu sein.

Dadurch wurden die Konflikte aber nicht beigelegt, sondern nur “eingefroren”. Die Mauer sollte ernsthafte Konfrontationen und Gewalt verhindern. Die Bewohner des Klosters mussten das eigens in der Stadtmauer angelegte “Karlstor” benutzen, um nach draussen zu eigenen Ländereien zu gelangen, ohne dabei die Stadt um Erlaubnis zu bitten. Aber in einer Situation der allgemeinen Entspannung wurde dies von allen Konfliktparteien toleriert.

Der Bau der Mauer verhinderte auch die Spaltung der Region St. Gallen (als Kanton erst ab 1803). Anders im Kanton Appenzell: Hier spaltete sich 1597 im Rahmen der Landteilung der evangelisch-reformiert gewordene Landesteil des nachmaligen Appenzell Ausserrhoden vom römisch-katholisch geprägten Appenzell Innerrhoden ab.

Die Mauer in St. Gallen stand von 1567 bis 1807. 1805 wurde beschlossen, dass alle Klöster in der Schweiz aufgelöst werden sollten, und so wurde die Mauer nicht mehr benötigt. Im Jahr 2010 im Zuge der Aufwertung der Neupflästerung der Innenstadt, konkret am Gallusplatz, wurde der alte Verlauf der Mauer architektonisch wieder sichtbar gemacht. Ein letzter Rest der Schiedmauer ist nach wie vor sichtbar an der Zeughausgasse beim Restaurant Zeughaus.

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