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Wahlen in Indien: “Langfristig habe ich viel Hoffnung”

Hände und Maske von Narendra Modi
Ein Anhänger der Bharatiya Janata Party (BJP) hält im Mai 2014 eine Maske von Narendra Modi in die Luft. Modi ist vor 10 Jahren erstmals zum Premierminister von Indien gewählt worden. Rajesh Kumar Singh / Keystone

Im Interview spricht Professorin Debjani Bhattacharyya über die indischen Wahlen, die Konkurrenz zwischen Bundesstaaten und Zentralregierung und darüber, dass das Freihandelsabkommen in Indien bloss wenig Schlagzeilen macht.

Debjani Bhattacharyya ist die erste Geschichtsprofessorin aus dem globalen Süden in Zürich. Sie ist auch die erste Lehrstuhlinhaberin als Professorin zur Geschichte des Anthropozäns. Der Begriff Anthropozän meint keine Naturgeschichte, sondern die Wechselwirkungen zwischen Natur und Mensch.

Bhattacharyya hat in ihrer Forschung zum Beispiel nachgezeichnet, wie die britische Kolonialherrschaft die Ökologie von Westbengalen geprägt und dabei Kolkata geschaffen hat – jene Stadt, in der Bhattacharyya aufgewachsen ist.

SWI swissinfo.ch: Sie kommen aus der Metropole Kolkata in Westbengalen, im Osten Indiens. Sind die grossen Fragen vor den indischen Wahlen dort dieselben wie im Rest des Landes?

Debjani Bhattacharyya: Überhaupt nicht. In Westbengalen regiert die Trinamool Congress, TMC, die nicht zum Regierungsbündnis von Narendra Modis Bharatiya Janata Party, BJP, gehört.

In Westbengalen ist es ein Hauptanliegen, das neue Bürgerrechtsgesetz von Modis Regierung zu stoppen. Das 2019 von der Regierung angekündigte Gesetz ging Anfang März durchs Parlament, doch der Entscheid des Obersten Gerichts ist noch offen.

Porträt von Debjani Bhattacharyya
Debjani Bhattacharyya ist Professorin für die Geschichte des Anthropozäns. Zu ihren Veröffentlichungen gehört “Empire and ecology in the Bengal delta: the making of Calcutta”. Vera Leysinger/SWI swissinfo.ch

SWI: Westbengalen ist offiziell als Bundesstaat dagegen?

DB: Genau. Es gibt viele Bundesstaaten an der Grenze zu Bangladesch und auch in anderen Teilen Indiens, die dagegen sind.

SWI: Was will das umstrittene Gesetz?

DB: Für verfolgte Minderheiten aus Nachbarländern wird es damit leichter, das Bürgerrecht zu erlangen: für Sikhs, für Buddhist:innen und Christ:innen. Aber Muslim:innen, die etwa in Myanmar verfolgt werden, sind ausgeschlossen.

Das Gesetz führt auch Beweispflichten und Stichtage für das Bürgerrecht ein. Im Bundesstaat Assam, wo die Umsetzung bereits begonnen hat, fehlen etwa zwei Millionen MenschenExterner Link aus der Bevölkerung auf der Liste der Bürger:innen. Ihnen droht die Staatenlosigkeit.

Selbst wenn sie Bürger:innen sind, wird ihnen der Beweis schwerfallen. Sie brauchen eine Geburtsurkunde, eine Schulurkunde – doch in vielen dieser Dörfer gibt es keine Schulen; hier leben die Ärmsten der Armen. Gerade in Assam lebten viele zeitweise auf beiden Seiten der Grenze zu Bangladesch.

Die Grenzen waren hier seit 1947 und seit Bangladeschs Unabhängigkeit von Pakistan 1971 immer fliessend. Bis vor wenigen Jahren gab es 71 Enklaven Bangladeschs in Indien und drei indische Enklaven in Bangladesch.

Heute leben um die 10’000 Menschen in DörfernExterner Link, die auf keiner Karte erscheinen. Dann gibt es Menschen, die saisonal an verschiedenen Orten entlang des Schwemmgebiets des Flusses ziehen. Solche Leute werden komplett entrechtet.

Das ist ein grosses Problem und bei diesen Wahlen ein heisses Thema.

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SWI: Indien ist ein föderalistischer Staat. Wie viel kann Westbengalen unabhängig von der nationalen Regierung für sich entscheiden?

DB: Indien hatte eine föderale Struktur. Im letzten Jahrzehnt hat eine Zentralisierung eingesetzt – in verschiedenen Formen. Ein Hebel ist der Umgang der Zentralregierung mit den Budgetmitteln: die “Goods and Services Tax”.

Seit der Jahrtausendwende haben verschiedene Regierungen dieses Steuersystem ausgearbeitet, um die Wirtschaft über Bundesstaatsgrenzen hinweg zu fördern. Eingeführt hat es 2017 dann die BJP. Die Mittel aus der “Goods and Services Tax” gehen an die Zentralregierung.

SWI: Wenn ein Bundesstaat ausschert, werden die Mittel gekürzt?

DB: Nein, sie werden verzögert. Wenn wir in Westbengalen die Zeitung öffnen, sehen wir dauernd Schlagzeilen über vorenthaltene Mittel.

SWI: Was sagen die indischen Zeitungen zum Freihandelsabkommen mit der Schweiz und den anderen EFTA-Staaten? In der Schweiz ist es ein grosses Thema.

DB: Ich habe durch die Neue Zürcher Zeitung davon erfahren – nicht aus den drei indischen Zeitungen, die ich täglich lese. Das war sonderbar.

Als ich recherchiert habe, fand ich ausserhalb von spezialisierten Wirtschaftsblättern kaum was in den indischen Medien. Wenn etwas mit Deutschland ist, mit Frankreich, Grossbritannien, den USA, Australien: Dann bekommt es in Indien Aufmerksamkeit, aber bei der Schweiz ist das noch anders.

Das ist interessant, weil die Schweiz in Indien präsent ist. Einer meiner Studenten forscht zur Präsenz von Nestlé, die bis auf die 1950er-Jahre zurückgeht – obwohl die indische Wirtschaft damals abgekapselt war.

SWI: In der Schweiz kritisieren NGOs wie Public Eye das Abkommen, weil es die indische Medikamentenindustrie den Klagen der Schweizer Pharmabranche aussetzen könnte.

DB: Persönlich sehe ich es ambivalent. Sollte es solche Abkommen geben, obwohl die Pressefreiheit in Indien beschränkt ist und es zu politischer Gewalt kommt? Vielleicht. Vielleicht schaffen solche Abkommen aber Arbeitsplätze, Indien hat eine grosse Arbeitslosigkeit.

In Indien verläuft die Diskussion sowieso anders: Alle indischen Parteien setzen stark auf Wohlfahrt. In den letzten 10 Jahren hat die Zentralregierung die Mittel von nachhaltigen Programmen wie MGNREGAExterner Link reduziert. “MGNREGA” bietet Arbeitslosen während 100 Tagen eine Beschäftigung und bietet für manche im ländlichen Raum sozialen Aufstieg.

Stattdessen verteilt die Politik “Freebies”, wie es die Politikwissenschaft nennt. In Westbengalen erleben wir einen Wettstreit zwischen der Zentralregierung und der lokalen Regierung: Das Foto des Premierministers ziert Gaszylinder. Junge Frauen erhalten Geld mit einem Programm, das nach der TMC-Chefministerin von Westbengalen benannt ist.

Diese wichtige Unterstützung geht mit populistischer Rhetorik einher – im Zentralstaat von Rechts, in Westbengalen von Mitte-Links.

Debjani Bhattacharyya während im Interview
“Ich bin Historikerin. Ich sehe die Dinge langfristig”, sagt Bhattacharyya. Vera Leysinger/SWI swissinfo.ch

SWI: Wie sehen Sie die in Westbengalen regierende TMC?

DB: Sie ist glaubwürdig säkular, eine Ausnahme im heutigen Indien. Seit den 1990er-Jahren, als der Neoliberalismus die indische Wirtschaft umpflügte, hat generell eine Religiosität Einzug in die Politik gehalten.

Dabei starteten wir 1947 als Land mit einer säkularen Verfassung. Jawaharlal Nehru – meiner Meinung nach ein grosser Staatsmann – wollte Industrialisierung und Entwicklung. Er sagte immer wieder: Staudämme sind die Tempel des neuen Indiens. Der indische Säkularismus ist kein Laizismus, sondern eher eine Form von Ökumene.

Wir hatten bereits Anfang der 1990er-Jahre eine BJP-Regierung, aber deren Vorsteher besuchte – ganz im Gegensatz zu Narendra Modi heute – jedes islamische Festival. So war das üblich.

SWI: Sie sagten, Nehru vertrat die Position, Staudämme seien die Tempel der Zukunft. Sieht Modi die Zukunft in Staudämmen und Hindu-Tempeln?

DB: So könnte man das sagen. Immerhin hat Modi über ein halbes Jahrhundert nach der Grundsteinlegung die Sardar-Sarovar-Talsperre eröffnet. Bei seiner ersten Wahl war das Sprungbrett die Entwicklung, nicht die Religion. Er sagte, Gujarat zeige ein Entwicklungsmodell, das sich für ganz Indien anwenden lasse. Er setzt auf Dämme und Tempel. Dämme, Tempel und grosse Statuen.

SWI: Die deutsche Konrad-Adenauer-StiftungExterner Link wagte bereits vor einem Jahr die Prognose, dass Modi 2024 zum dritten Mal gewählt wird. Es scheint wenig Zweifel an Modis Wiederwahl zu geben.

DB: Es gibt eine grosse Chance, dass ihm eine dritte Amtszeit bevorsteht. Er wird einer der am längsten amtierenden Premierminister Indiens sein.

In den letzten Jahren erlebten wir Indiens Rückkehr zur globalen Macht. Wir sind ein Bollwerk gegen China – weshalb für die USA, Westeuropa und Australien der Demokratieverlust und die wachsende Ungleichheit in den Hintergrund rücken.

Indien ist ein grosser Abnehmer für Waffen. Der indische Ozean ist ein entscheidendes Gebiet für aktuelle geopolitische Auseinandersetzungen. Unter Modi hat Indien einen Sitz im UNO-Sicherheitsrat erlangt.

Viele, gerade auch wohlhabende Inder:innen in der Diaspora, erleben Modis Indien positiv, als eine starke Nation, eine Nation des starken Manns.

Porträt von Debjani Bhattacharyya
Bhattacharyya vor ihrem Büro an der Universität Zürich Vera Leysinger/SWI swissinfo.ch

SWI: Man hat das Gefühl, solche “starken Männer” dominieren momentan die Politik vielerorts. Sie sind Professorin für die Geschichte des Anthropozäns: Sind solche Figuren ein Ausdruck dieser Zeit, in der Menschen den Planeten formen?

DB: Ja. Diese starken Männer treten in einem Momentum des ökologischen Wandels auf. Auch wenn die Öl- und Gasindustrien dies bestreiten und der Rohstoffabbau, etwa von Uran in Indien, ungebremst ist, befinden wir uns global bereits in einem Übergang. Ich fürchte, dass sogar der vorgeschlagene ökologische Wandel blutig werden kann.

SWI: Es wird blutig?

DB: Wir erleben eine komplexe Gemengelage. Einerseits haben wir die Natur zur Vorratsreserve umgewandelt. Andererseits entstehen Formen von ökologischem Populismus, die sich als Alternative zur technologischen Moderne positionieren.

In Indien gibt es zum Beispiel eine enorme Hinwendung zu alternativen Heilmethoden. Im Westen wird dies teilweise romantisiert, aber insgesamt versteckt es bloss die Unfähigkeit des Staates die Infrastruktur für ein öffentliches Gesundheitssystem zu garantieren.

Ein anderes Beispiel ist der Fluss Ganges: Nach der Anerkennung von Maori-Rechten und indigenen Wissenssystemen in Neuseeland, wurde der Fluss Wanganui zur Rechtsperson, worüber man sich berechtigterweise überall auf der Welt gefreut hat.

In Indien wurde im Zuge dessen der Ganges im Namen des Umweltschutzes zur Rechtsperson erklärt, womit allerdings bloss sein mythischer Status in der Hindu-Kosmologie verfestigt worden ist.

SWI: Das tönt beunruhigend. Haben Sie trotzdem Hoffnung für die politische Entwicklung Indiens?

DB: Das ist ein Momentum, das wir gerade erleben, aber langfristig habe ich viel Hoffnung. Modi ist der populärste Premierminister aller Zeiten. Aber die Dinge ändern sich in Indien. Es gibt weiterhin viel Opposition.

Der BJP fällt es schwer, sich in manchen Staaten durchzusetzen. Wie lange kann die wirtschaftliche Ungleichheit wachsen? Wie lange kann man ein politisches System auf dem Kreieren religiöser, ethnischer und ja, kastenbasierter Spaltungen aufbauen? Es wird nicht ewig dauern.

SWI: Langfristig sind Sie also optimistisch?

DB: Es dauerte 300 Jahre, bis Indien den britischen Kolonialismus hinter sich lassen konnte. Ich bin Historikerin. Ich sehe die Dinge langfristig.

SWI: Worauf hoffen Sie kurzfristig?

DB: Eine starke Opposition im Parlament, die die Regierung kontrollieren kann.  

SWI: Viele Expert:innen nennen Indien heute eine illiberale Demokratie. Teilen Sie diese Einschätzung?

DB: Ja. Die freie Presse ist eingebrochen, so dass man kaum mehr von einer Vierten Gewalt sprechen kann. Viele Medien sind regimefreundlich – und sonst gibt es kaum Information und dafür viel Geschrei.

SWI: Über das neue Bürgerrechtsgesetz entscheidet das Oberste Gericht. Ist die Justiz Ihrer Meinung nach weiterhin unabhängig?

DB: Das Gericht hat im letzten Jahrzehnt gemischt entschieden – manchmal ausgewogen, manchmal regimenah. Doch die Prozesse verzögern sich. Wenn sich Gerechtigkeit zu lange verzögert, wird es irgendwann ungerecht.

Wir haben zum Beispiel politische Gefangene, die im Gefängnis sehr lange auf Entscheide warten. Gewisse Facetten der rechtlichen Architektur wurden zum Instrument umgebaut. Im Prinzip schon vor Modi – unter dieser Regierung hat es sich einfach verstärkt.

Editiert von Mark Livingston

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