
Die Frühpension, ein Luxus mit zwei Geschwindigkeiten
Fast jede zweite Person in der Schweiz hört vor Erreichen des gesetzlichen Rentenalters von 65 Jahren auf zu arbeiten. Wie eine Reportage von Temps Présent des Westschweizer Fernsehens RTS zeigt, verbergen sich dahinter jedoch sehr unterschiedliche Ausgangslagen.
Die Frühpensionierung scheint ein starker Indikator für sozioökonomische Unterschiede zu sein – zwischen denjenigen, die es sich leisten können, früher in den Ruhestand zu gehen, und denjenigen, die dazu gezwungen werden.
Gewinner des Systems
«Von 60 bis 70, das sind Jahre, die doppelt zählen. Das sind Jahre, die Gold wert sind», sagt der 70-jährige Claude-Alain Soom, der mit 60 Jahren in den Vorruhestand ging.
Der ehemalige Manager konnte seinen beruflichen Abgang dank einer soliden zweiten Säule und umfangreicher Ersparnisse vorwegnehmen.
«Die Fixkosten müssen durch die AHV und die zweite Säule gesichert sein. Der Rest ist Bonus», sagt er. Diese komfortable Situation ermöglicht es ihm heute, seinen Ruhestand mit Reisen und Wassersport in vollen Zügen zu geniessen.

Aus gesundheitlichen Gründen in Frühpension
Am anderen Ende des Spektrums steht die 62-jährige Catherine. Sie lebt nach einer unsteten Berufskarriere von einer AHV-Rente in Höhe von 1908 Franken pro Monat.
«Mit meiner Tochter, dem Studium und den Krankenkassen konnte ich mit einem einzigen 60- oder 80-Prozent-Lohn nichts auf die Seite legen.»
Da sie aus gesundheitlichen Gründen in den Vorruhestand gehen musste, erwägt sie nun, Ergänzungsleistungen zu beantragen.
«Ich schäme mich nicht dafür, Ergänzungsleistungen zu beantragen. Wenn man sein ganzes Leben lang gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, hat man auch ein Recht auf diese Art von Leistungen», sagt sie.

Die riskante Wette auf die Frühpension
Zwischen diesen beiden Extremen gibt es Menschen wie die 62-jährige Nicole. Sie hat sich trotz unsicherer Einkünfte für einen früheren Ruhestand entschieden: «Ich hatte das Gefühl, dass ich mein Guthaben an Lebenserwartung verbrennen würde, wenn ich so weitermache.»
Ihren Entscheid hat sie bis heute nicht bereut, auch wenn sie zugibt, dass sie dafür finanzielle Opfer bringen musste.

Der Wirtschaftswissenschaftler José Ramirez ist der Ansicht, dass «das gesamte Ende der beruflichen Laufbahn und der Übergang in den Ruhestand neu überdacht werden müssen», um zu verhindern, dass die Frühpensionsregelung bestehende soziale Ungleichheiten noch verstärkt.
«Es ist klar, dass viele Unternehmen keine Gesamtrechnung machen, welche Auswirkungen ihre Entscheide auf die Gesellschaft und die einzelnen Personen haben», bedauert er in der Sendung Temps Présent von RTS.
Das System begünstigt hohe Einkommen
Für den Rentenspezialisten Michel Schweri ist diese Begünstigung eindeutig: «Das Phantombild des perfekten Rentners ist ein Mann, der sein ganzes Leben lang gearbeitet hat, der eine gute Ausbildung gemacht hat, der also einen gut bezahlten Beruf hat, der keinen Karriereknick hatte, nicht geschieden ist und auch keine Krankheit hatte.»
Eine Feststellung, welche die Grenzen eines Altersvorsorgesystems aufzeigt, das grösstenteils auf dem beruflichen Werdegang basiert.
Zeit ist der ultimative Luxus des vorzeitigen Ruhestands
Angesichts dessen entscheiden sich einige, das Glas halb voll zu sehen. So wie Catherine, die ihre neue Freiheit trotz ihres geringen Einkommens geniesst: «Sich die Zeit zu nehmen, das ist unbezahlbar. Das ist alles Gold der Welt wert. Es sind ein paar gewonnene Jahre.»
Übertragung aus dem Französischen mithilfe von Deepl: Christian Raaflaub

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