So sollen KI-Tools die Krebsbehandlung in der Schweiz verbessern
Trotz des Hypes um den Einsatz von KI in der Medizin kommen heute die wenigsten Patient:innen damit in Kontakt. Universitäten, Gesundheitsdienstleister und private Unternehmen entwickeln nun gemeinsam KI-Tools für die Diagnose und Behandlung von Krebs.
Mit NAIPO (National AI Initiative for Precision Oncology) erreicht die KI die Schweizer Krebsmedizin: Das neues Projekt will eine Datenbank mit Patient:innenakten und Diagnoseberichten aufbauen und später grosse Sprachmodelle zur Analyse der Informationen einsetzen und zudem KI in die Radiologie, Pathologie und andere klinische Bereiche einbringen.
Das Projekt ist auf fünf Jahre ausgelegt und wird mit 8,25 Millionen Franken von Innosuisse, der Schweizer Technologieagentur, finanziert. Die institutionellen Partner werden zusätzlich 10 Millionen Schweizer Franken beisteuern. Damit gehört es aktuell zu den am besten finanzierten Krebsforschungsprojekten in der Schweiz.
«Am Ende des Programms sollten wir in der Lage sein, Patient:innen in der Präzisionsonkologie dabei zu helfen, von all diesen KI-Entwicklungen zu profitieren, damit sie besser behandelt werden können», sagt Olivier Michielin, Leiter der Abteilung für Onkologie an den Universitätskliniken Genf und Mitkoordinator des Projekts.
«Das Endziel ist, wie immer in der Onkologie, die Überlebensrate zu erhöhen und alle Messgrössen für den Nutzen der Behandlung zu verbessern», so Michielin.
Wie funktioniert die Initiative?
Der erste Schritt besteht darin, ein gemeinsames zentrales Datenarchiv zu erstellen mit medizinischen Unterlagen und Behandlungsnotizen von Patient:innen, die dazu ihre Zustimmung gegeben haben.
Auf dieser Grundlage werden grosse Sprachmodelle entwickelt, um Informationen zu extrahieren, zu sammeln und auszutauschen und so die Behandlungen zu koordinieren.
Ein weiterer Schwerpunkt von NAIPO liegt auf der Entwicklung von KI-Tools für die klinische Praxis, besonders in der Radiologie und Pathologie. Bereiche, in denen bereits komplexe Datensätze aus genetischen Daten oder Mikroskopaufnahmen von Gewebe verarbeitet werden.
Parallel dazu werden die Forscher:innen untersuchen, ob Analysen von Tumorproben mithilfe von KI detaillierter sind und mehr Tiefe bieten könnten als herkömmliche Tools.
Lesen Sie hier unseren Artikel darüber, wie KI bei der Medikamentenforschung eingesetzt wird:
Mehr
Pharmaindustrie macht Ernst mit KI-Medikamenten
Die gesammelten Informationen werden an molekulare Tumorboards (MTB) weitergeleitet. MTBs sind medizinische Gremien, in denen Spezialist:innen zusammenkommen, um Fälle einzelner Patient:innen zu diskutieren und Meinungen zu Diagnosen und Therapien auszutauschen.
Es gibt lokale Gremien innerhalb einzelner Krankenhäuser sowie ein nationales Gremium, in dem Expert:innen die komplexesten der mehr als 50’000 jährlichen Krebsfälle in der Schweiz begutachten.
Über eine spezielle App wird das Projekt zudem Patient:innen einbinden, um sicherzustellen, dass sie während ihrer gesamten Behandlung aktiv informiert werden.
NAIPO ist Teil der Initiative Swiss Personalized Oncology des Swiss Personalized Health Network (SPHN). Das Programm wurde 2018 vom Bund ins Leben gerufen und 2022 erweitert.
Es soll die nationale Datenbank für klinische Forschung durch modernste Datenerfassung zu ergänzen, die molekularen Tumorboards als Orientierungshilfe dient. An dem Projekt Swiss Personalized Oncology waren viele der Partner:innen beteiligt, die nun auch an NAIPO mitwirken.
KI-Tumorboard in Zürich
NAIPO ist nicht der erste Versuch, KI in Kliniken einzuführen. Im Mai gab das Universitätsspital Zürich bekannt, dass es ein KI-Tumorboard einrichten wird, das im November seine Arbeit aufnehmen soll.
Der Vorstoss, KI in der Onkologie einzusetzen, kommt vor allem aus dem sogenannten «Next-Generation-Sequencing» (NGS), einer in den letzten Jahrzehnten entwickelte Technologie, die die DNA in Krebszellen analysiert. Der Prozess lieferte detaillierte Informationen und machte eine komplexe maschinelle Analyse erforderlich.
Laut Andreas Wicki, Vizepräsident der Abteilung für Onkologie und Hämatologie am Universitätsspital Zürich, haben Schweizer Universitätsspitäler vor etwa zehn Jahren mit dem Next-Generation-Sequencing begonnen. «Das war das erste Mal, dass wir mehr Daten erhielten als jemals zuvor», sagt Wicki.
Viele Arten von Krebszellen weisen DNA-Mutationen auf. Die Identifizierung der aufgetretenen Mutation kann für die Klassifizierung des Krebses und die Einhaltung der entsprechenden Behandlungsrichtlinien von entscheidender Bedeutung sein.
Sowohl das KI-Tumorboard als auch NAIPO wollen KI einsetzen, um Muster zu finden, die sonst möglicherweise übersehen würden. Diese Informationen sollen dann den Ärzt:innen zur Verfügung gestellt werden.
«Wenn Sie einen Patienten oder eine Patientin in einer relativ normalen Situation haben, können Sie dies nutzen, um zwischen gleichwertigen Therapien zu entscheiden“, sagt Wicki.
KI-Systeme könnten auch dabei helfen, Patient:innen für die Teilnahme an Studien über Behandlungen zu empfehlen. Zudem kann KI Patient:innen mit ähnlichen Merkmalen innerhalb des Netzwerks vergleichen, um Behandlungspläne zu koordinieren und zu empfehlen.
KI in der digitalen Pathologie
Im Bereich der digitalen Pathologie, die ähnlich wie das Next-Generation-Sequencing funktioniert, werden hohe Erwartungen an die KI gestellt. Beide Verfahren basieren auf einer Biopsie, konzentrieren sich jedoch auf unterschiedliche Aspekte.
Das Next-Generation-Sequencing untersucht die DNA, um genetische Veränderungen in den Krebszellen zu finden, während die digitale Pathologie das Gewebe selbst untersucht: Sie wandelt Mikroskop-Objektträger in digitale Bilder um und hebt hervor, wie die Zellen angeordnet sind, wie sie aussehen und wie sie auf spezielle Färbungen reagieren – Farbstoffe oder Chemikalien, die bestimmte Teile der Zellen unter dem Mikroskop besser sichtbar machen.
Zusammen liefern die beiden Ansätze ein vollständigeres Bild des Tumors, sowohl innen (Gene) als auch aussen (Gewebestruktur).
Mehr
Alles zum Thema «Wissenschaft»
In Genf entwickelt Michielins Gruppe eine KI, um die Wirksamkeit bestimmter Therapien vorherzusagen. Wenn der Algorithmus beispielsweise anzeigt, dass etwa eine Immuntherapie kaum Erfolgsaussichten verspricht, könnten Onkolog:innen stattdessen eine andere Strategie verfolgen.
«Es ist eine zusätzliche Komponente, die man in einem mehrdimensionalen Entscheidungssystem zur Behandlung von Patient:innen berücksichtigt», sagt Michielin.
Der Algorithmus wurde mit Daten von etwa 100 Patient:innen trainiert und wird derzeit mit rund 500 Fällen validiert. Der Validierungsprozess ist retrospektiv: die Forscher:innen analysieren also Proben von bereits behandelten Patient:innen und vergleichen dann die Vorschläge der KI mit den tatsächlichen Ergebnissen, um zu testen, ob das System genaue und zuverlässige Vorhersagen treffen kann.
Das Pharmaunternehmen Roche, einer der wichtigsten privaten Partner von NAIPO und Kooperationspartner des Universitätsspitals Zürich, hat eine Reihe von KI-gestützten Tools entwickelt, die Patholog:innen bei der Krebsdiagnose unterstützen.
So gab beispielsweise ein Team in Brasilien kürzlich bekannt, dass es die Diagnosezeit für Brustkrebs mithilfe von KI-Instrumenten von Roche von einer Stunde auf 30 Sekunden verkürzt habe.
Eine Studie aus Spanien ergab ausserdem, dass die KI-Diagnose die Zeit zwischen dem Eintreffen einer Biopsieprobe im Labor und der Übermittlung der endgültigen Diagnose an Arzt und Patient:in verkürzen kann.
Mit herkömmlichen Methoden dauerte dies durchschnittlich etwa 10,5 Tage, mit digitaler Pathologie sank diese Zeit auf unter sieben Tage. Die Arbeitsbelastung für Patholog:innen verringerte sich um fast ein Drittel, in Spitzenmonaten sogar um mehr als die Hälfte.
Internationale Aufmerksamkeit für KI in der Krebsbehandlung
KI in der Onkologie findet international grosse Beachtung. Die European Society of Medical Oncology (ESMO), ein Berufsverband mit mehr als 30’000 Mitgliedern, der die meisten europäischen Onkolog:innen vertritt, organisiert im November in Berlin eine Konferenz zu diesem Thema.
«Als wir das erste Mal über die Konferenz sprachen, gingen wir davon aus, dass vielleicht 150 Personen teilnehmen würden», sagt der medizinische Onkologe Rudolf Fehrmann vom Universitätsklinikum Groningen, einer der Organisatoren der Konferenz.
«Aber als wir mit der Organisation begannen, wurde uns klar, dass dies ein sehr aktuelles Thema ist. Jetzt erwarten wir über tausend Teilnehmer:innen.»
NAIPO wird aufgrund von Terminproblemen in diesem Jahr nicht auf der Tagesordnung stehen. Es wird «sicherlich Ergebnisse vorweisen können, die in den nächsten Ausgaben vorgestellt werden», sagt Michielin.
Auch wenn KI in der Onkologie derzeit noch eine untergeordnete Rolle spielt, ändert sich die Situation rapide. Die Forscher:innen hoffen, dass NAIPO ein weiterer Schritt zu besseren Behandlungsergebnissen für Patient:innen in der Schweiz und darüber hinaus sein wird.
Editiert von Gabe Bullard; Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel/jg
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch