
Einst Verursacherin, jetzt Opfer des Klimawandels: Die Landwirtschaft sucht nach Gerechtigkeit

Die Landwirtschaft ist eine wichtige Quelle von Treibhausgasemissionen. Sie ist aber auch einer der Sektoren, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind. Eine Klage in der Schweiz könnte Landwirt:innen auf der ganzen Welt dazu veranlassen, ihre Regierungen wegen Untätigkeit im Klimaschutz zu verklagen.
Bauern und Bäuerinnen wissen, wie sie sich Gehör verschaffen können. Sie zögern nicht, Strassen mit Traktoren zu blockieren oder Misthaufen in Städten abzuladen, um ihre Unzufriedenheit auszudrücken.
Im vergangenen Jahr verbreiteten sich solche Proteste gegen die Umweltpolitik, die steigenden Produktionskosten und den internationalen Wettbewerb in vielen europäischen Ländern, auch in der Schweiz.
Eine Gruppe von Schweizer Landwirten wählte jedoch einen anderen – weniger spektakulären, aber nicht minder wirksamen – Weg, um ihre Unzufriedenheit zu zeigen.
Neun Bauern und fünf kleine landwirtschaftliche Verbände aus verschiedenen Kantonen haben eine Klage gegen die Schweizer Behörden eingereichtExterner Link. Sie werfen ihnen vor, nicht genug für das Klima zu tun und ihre Existenz zu gefährden. Der Fall ist beim Bundesverwaltungsgericht hängig.
Die Zahl der Klimaklagen nimmt weltweit zuExterner Link, von 2540 im Jahr 2023 auf fast 2900 im Jahr 2024. Immer mehr Menschen und Verbände wenden sich an die Gerichte, um die Unzulänglichkeit der Klimapolitik der Regierungen oder die Verantwortung von Unternehmen für ihre CO2-Emissionen anzuprangern.
Auch die Agrar- und Ernährungsindustrie und insbesondere die Viehzuchtbetriebe sind auf der Anklagebank gelandet, so etwa in Dänemark, den Vereinigten Staaten und Neuseeland.
Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) verursacht die Fleisch- und Milchproduktion etwa 15% der von Menschen verursachten Emissionen. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Methan, ein starkes Treibhausgas, das durch den Stoffwechsel von Rindern und anderen Wiederkäuern entsteht.
Viehzuchtbetriebe gelten im Allgemeinen als Verursacher, die zur Verantwortung gezogen werden sollten, weil ihre Emissionen die globale Erwärmung verschärfen, erklärt Emily Bradeen, politische Analystin am Grantham Research Institute on Climate Change and the Environment in London gegenüber SWI swissinfo.ch.
Die Klage der Landwirte in der Schweiz sei «interessant, weil sie diese Ansicht umstösst und argumentiert, dass auch Landwirte Opfer des Klimawandels sein können».
Charlotte E. Blattner, ausserordentliche Professorin für öffentliches Recht und Umweltrecht an der Universität Lausanne, sieht in dieser Initiative einen Paradigmenwechsel. «Sie markiert eine bedeutende Veränderung in der Art und Weise, wie Landwirte und Landwirtinnen sich in Umweltfragen positionieren», sagt sie.

Rechtliche Massnahmen für Klimaverpflichtungen
Die Landwirtschaft ist durch die globale Erwärmung besonders gefährdet. Höhere Temperaturen, häufigere Dürren und intensivere Wetterereignisse verringern die Ernteerträge.
«Wir passen uns an, aber es gibt Grenzen, über die wir nicht hinausgehen können. Wenn sich 40°C-Sommer häufen würden, würde nichts mehr wachsen», sagte der Genfer Winzer Yves Batardon der Zeitung Le Temps. Die Dürre von 2022Externer Link hat ihn zehntausende von Franken gekostet.
Batardon ist einer der Kläger in der Klimaklage gegen die Schweizer Behörden. Im März 2024 forderten er und andere Landwirte das Eidgenössische Umweltdepartement (UVEK) auf, die notwendigen Schritte zu unternehmen, damit der Bund seine nationalen und internationalen Verpflichtungen zur Emissionsreduktion einhält.
Die Schweizer Regierung hat 2017 das Pariser Klimaabkommen ratifiziert und sich das Ziel gesetzt, bis 2050 eine Netto-Null-Emissionsbilanz zu erreichen.
Landwirtschaftliche Einnahmen um bis zu 40% gesunken
Der Schweizer Verein Klima-Anwält:innen, der die Landwirte und Landarbeiter vertritt, behauptet, die Klimapolitik des UVEK sei unzureichend. Sie gefährde die wirtschaftliche Freiheit der Landwirte und die Sicherheit ihres Privateigentums. In den letzten drei Jahren haben Dürre, starke Regenfälle und Hagel ihr Einkommen um 10% bis 40% verringert.
Die Rechtsexpert:innen stützen sich auf einen Bericht der Internationalen Energieagentur aus dem Jahr 2023. Sie behaupten, dass die Schweiz bei den CO2-Emissionen zu den schlechtesten Ländern der Welt gehört (14 Tonnen pro Kopf gegenüber einem Weltdurchschnitt von 6).
Sie verweisen auch auf einen Schweizer Bericht, der «immer häufigere und längere Dürrephasen vorhersagt, gerade wenn die Temperaturen und der Wasserbedarf der Landwirtschaft hoch sind».
>> Zu diesem Thema können Sie hier mehr lesen:

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Warum der CO2-Fussabdruck der Schweiz grösser ist als allgemein angenommen
«Die Existenzgrundlage der Landwirte, ihre Lebensweise und ihr Beitrag zur Ernährungssicherheit sind durch die Zunahme extremer Wetterereignisse gefährdet», sagt Corina Heri, Assistenzprofessorin für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität Tilburg in den Niederlanden.
Die Argumentation der Klimaanwält:innen knüpft an andere Fälle an, in denen Gerichte die Verantwortung der Regierungen für den Schutz der Menschen vor den Auswirkungen des Klimawandels anerkannt haben. Dazu gehört der Fall der Klimaseniorinnen, die 2024 einen historischen Sieg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) errungen haben.
>>Der historische Sieg der Klimaseniorinnen:

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Die Klimapolitik der Schweiz verletzt die Menschenrechte
«Wir werden den ganzen Weg gehen»
Das UVEK erachtete den Antrag der Bauern als unzulässig. Die Schweiz tue bereits genug für das Klima, und die Landwirtschaft sei nicht stärker vom Klimawandel betroffen als andere Gruppen, argumentierte es.
Die Bundesbehörden erklärten, sie wollten das Urteil des EGMR im Fall der Klimaseniorinnen nicht berücksichtigen. Eine Entscheidung, die nach Ansicht von Arnaud Nussbaumer-Laghzaoui, Präsident der Klimanwält:innen, «unglaublich» ist. «Ein Verstoss gegen die Gewaltenteilung», sagt er.
Die Kläger haben beim Bundesverwaltungsgericht Berufung eingelegt und sind zuversichtlich, einen positiven Ausgang zu finden. Eine Antwort wird bis Ende 2025 erwartet.
Im Falle einer Niederlage werden sie sich an das Bundesgericht und notfalls an den EGMR wenden. «Wir sind bereit, den ganzen Weg zu gehen», sagt Nussbaumer-Laghzaoui.

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Wie die Schweizer Klimaseniorinnen Südkorea inspirieren
Verringerung der Emissionen zur Gewährleistung der Ernährungssicherheit
Die Klimaklage der Bauern in der Schweiz ist nicht die erste auf der Welt. Im Jahr 2015 hatte das Oberste Gericht im pakistanischen Lahore einem Bauern Recht gegeben, der die Regierung seines Landes beschuldigt hatteExterner Link, keine Massnahmen gegen die klimatischen Veränderungen umzusetzen und damit sein Recht auf Leben und Menschenwürde zu verletzen.
Seitdem haben solche Fälle jedoch nicht viel Erfolg gehabt, stellt Corina Heri fest. Die Gesetze haben sich nicht geändert und die Gerichtsurteile wurden nicht umgesetzt. Die Klage in der Schweiz könnte im Gegenteil «einflussreich» sein, argumentiert sie.
Sie könnte zum Beispiel klarstellen, dass Kleinbäuerinnen und -bauern und die ländliche Bevölkerung besonders anfällig für die Auswirkungen des Klimawandels sind und dass die Staaten von diesen Gruppen nicht erwarten können, dass sie Anpassungsmassnahmen allein umsetzen, erklärt die Juristin.
«Sie könnte auch festlegen, dass die Reduzierung von Emissionen der einzige Weg ist, um die Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit zu schützen.»
Die Schweizer Landwirte machen auf die Auswirkungen des Klimawandels auf ihre Lebensgrundlagen aufmerksam, sowohl in Bezug auf wirtschaftliche Verluste als auch auf die Kosten für Anpassungsmassnahmen, erklärt Bradeen vom Grantham Institute.
«Die Regierungen investieren nicht genug in Anpassungsmassnahmen, um sicherzustellen, dass die Gemeinschaften gegenüber extremen Wetterereignissen, Dürre und anderen Auswirkungen der globalen Erwärmung resilient sind.»
Die Klage der Schweizer Bauern sei eine der ersten, die sich mit den schädlichen Auswirkungen des Klimawandels auf die Landwirtschaft befasst. «Ein positives Urteil könnte einen wichtigen Präzedenzfall für die Massnahmen schaffen, die Regierungen ergreifen müssen, um diese Schäden zu mindern», sagt Bradeen.
Ein Meilenstein in der Klimaprozessführung
«Die Schweizer Klage kommt zum richtigen Zeitpunkt und ich glaube, dass wir eine Zunahme solcher Klagen von Landwirt:innen erleben werden», sagt Daina Bray, Professorin für Recht an der Yale Law School, gegenüber SWI swissinfo.ch.
Bray ist Mitverfasserin einer Studie über Klimaklagen gegen die sogenannten Methan-MajorsExterner Link, die Agrarriesen, die für den Grossteil der weltweiten Methanemissionen verantwortlich sind.
Landwirt:innen leiden darunter, dass die Regierungen es nicht schaffen, die grossen Konzerne zu regulieren, die die Massentierhaltung betreiben, sagt Bray. Sie leiden auch unter dem Fehlen geeigneter politischer Massnahmen zur Unterstützung der Landwirtschaft beim Übergang zu widerstandsfähigeren und nachhaltigeren Praktiken.
Eine Reform des Lebensmittelsystems kann den Landwirt:innen zugutekommen, zum Beispiel durch die Schaffung neuer Einkommensquellen, so Bray. Es sind jedoch erhebliche Investitionen erforderlich, um die am stärksten Betroffenen zu unterstützen.
Bradeen glaubt, dass der Schweizer Fall, auch wenn er nicht bis zum EGMR geht, ähnliche Aktionen in Europa, den USA und anderen Ländern inspirieren kann. Einer der interessanten Aspekte von Klimafällen, erklärt sie, ist der intensive internationale Austausch zwischen Zivilanwält:innen und Richter:innen, die über die Grenzen ihres eigenen Landes hinausschauen und sich von Klagen in anderen Staaten inspirieren lassen.
«Landwirt:innen und alle, die mit Klimaprozessen zu tun haben, werden genau beobachten, wie sich dieser Fall entwickelt», sagt er.
Unabhängig vom Ausgang der Berufung beim Bundesverwaltungsgericht ist dieser Fall für Charlotte Blattner «ein weiterer entscheidender Meilenstein auf dem langen Weg der Klimaprozesse, die mehr Klimaschutzmassnahmen fördern».
Editiert von Gabe Bullard/vm; Übertragung aus dem Italienischen von Janine Gloor

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