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Das Frühmittelalter ist besser als sein (trauriger) Ruf

Homme assis posant avec un livre
Justin Favrod, Experte für Burgunder in der Schweiz, sieht das Frühmittelalter keineswegs als dunkle Periode, im Gegenteil. swissinfo.ch

Das Frühe Mittelalter, das von etwa 500 bis zum Jahr 1000 dauerte, wird oft als dunkle, gewalttätige Periode angesehen. Nun soll eine Ausstellung mit dem Klischee brechen und eine Epoche rehabilitieren, welche die Gestaltung der modernen Schweiz geprägt hat.

Amphitheater, klassische Autoren, unbesiegbare Legionen: Die römische Antike gilt als eine Blütezeit des Westens. Ritter in Rüstungen, Kathedralen, Schreib-Mönche: Auch das feudale Mittelalter, ab dem Jahr 1000, lässt viele Amateurhistoriker ins Schwelgen verfallen. Aber die Zeit dazwischen? Viele Leute sehen darin nur eine Art von schwarzem Loch, das geprägt ist von Barbareneinfällen, Gewalt und kulturellen Rückschritten.

Nun wollen das Walliser Geschichtsmuseum und das Lausanner Museum für Geschichte und Archäologie mit diesem “Klischee” brechen. Die Ausstellung “Frühes Mittelalter. Dunkle Zeiten?”Externer Link, die Mitte Juni eröffnet wurde, ist noch bis zum 5. Januar 2020 in Sitten zu sehen. Unter einer etwas anderen Form wird sie dann ab Februar nach Lausanne kommen.

Das Publikum kann in der Ausstellung neuste archäologische und historische Forschungen sowie aussergewöhnliche Objekte entdecken, die verschiedene Institutionen als Leihgabe zur Verfügung stellen.

Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Museen führte auch zu einer die Ausstellung begleitenden Publikation mit dem Titel “Aux sources du Moyen Âge. Entre Alpes et Jura de 350 à l’an 1000”Externer Link [Frühes Mittelalter. Zwischen den Alpen und dem Jura von 350 bis ins Jahr 1000]. Sie wurde von der Archäologin Lucie Steiner wissenschaftlich betreut, die als eine der besten Expertinnen in dem Bereich gilt.

Der Historiker Justin Favrod, Spezialist für das Frühe Mittelalter, insbesondere die Burgunder (Burgunden), und Co-Direktor der Westschweizer Monatszeitschrift für Geschichte und Archäologie “Passé simple”Externer Link, verfasste verschiedene Artikel für die Publikation. Auch für ihn verdient das Frühe Mittelalter etwas Besseres als seinen heutigen Ruf.

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Der Stock des Saint Germain, der älteste dekorierte Stock der Welt, aus dem Schatz von Moutier-Grandval. (7. Jahrhundert) Musée jurassien d’art et d’histoire, Delémont; B. Migy

swissinfo.ch: Warum wird diese Epoche oft als “dunkel” bezeichnet?

Justin Favrod: Die Bezeichnungen dieser historischen Perioden gehen auf das 18. und 19. Jahrhundert zurück, in eine Zeit, als der absolute kulturelle Bezug die griechisch-römische Antike war. Alles, was nicht von griechisch-römischen Einflüssen beeinflusst wurde, galt als negativ. Das ist der Hauptgrund.

Es gibt aber noch andere Gründe. Der französischsprachige Raum hatte seit dem französisch-preussischen Krieg von 1870 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine sehr negative Sicht der germanisch geprägten Welt. Weil das Frühe Mittelalter die grosse Epoche der germanischen Völker war, betrachten es die Franzosen zwangsläufig als eine “düstere” Zeit. In Deutschland hat man eine andere Sichtweise.

swissinfo.ch: Aber seien wir ehrlich, das Frühmittelalter hat weder prestigeträchtige Spuren noch literarische Schätze hinterlassen…

J. F.: Es kam zu einem unglücklichen Zusammenwirken für den Ruf des Frühen Mittelalters. Nach dem Ende des Römischen Reiches gab es eine Rückkehr zur keltischen Architektur, die auf Holz und Erde fusste, und nur wenige Spuren hinterliess.

Und das geschriebene Wort nahm aus einem dummen Grund nach und nach ab: Es gab kaum mehr Papyrus aus Ägypten, weil die Handelsrouten abgeschnitten wurden, zuerst von den Vandalen, dann von den Arabern. Das neue Medium für das geschriebene Wort war Pergament, d.h. Tierhaut. Pergament war aber extrem teuer, aus Kostengründen wurde daher immer weniger geschrieben.

Das Verschwinden des geschriebenen Wortes und der Bauwerke aus Stein ist in der Tat für den Ruf dieser Epoche nicht sehr gut. Wenn man aber die Arbeit der Handwerker aus dem 6. und 7. Jahrhundert im Detail betrachtet, entdeckt man echtes Talent. So wurden zum Beispiel damals die Glasmalerei-Fenster erfunden. Es gab also neuen Wind, neue Objekte, die das Publikum jetzt auch in der Ausstellung in Sitten entdecken kann.

swissinfo.ch: Eine Ausstellung, deren erklärtes Ziel es ist, mit dem Klischee einer dunklen Epoche zu brechen.

J. F.: Ja, die Organisatoren wollen wirklich zeigen, dass dies keine dunkle Zeit war. Sie war ohne Zweifel kompliziert, mit Kriegen und Gewalt, hatte aber auch brillante Aspekte.

So gab es damals einen Wandel von der Massenproduktion von identischen Objekten in den kaiserlichen Werkstätten hin zur hochwertigen lokalen Handwerkskunst. Gürtelschnallen wurden zum Beispiel zu einzigartigen, fein gearbeiteten Objekten. Mit der geografischen Fragmentierung entstanden völlig lokale Aktivitäten, was es vorher im Römischen Reich nicht gegeben hatte.

swissinfo.ch: Steht unsere Sichtweise dieser Epoche vor einer Veränderung?

J. F.: Was an dieser Zeit auch auffällt, ist ihre romantische Seite. Es gab immer wieder neue Wendungen, Kriege, Liebesgeschichten und Rache. Das regt die Fantasie sehr an. Das sieht man auch bei Serien wie “Kaamelott” oder “Game of Thrones”. Sie rücken diese Zeit ins Rampenlicht.

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Bronzeschlüssel aus Martigny, Wallis. (8. bis 9. Jahrhundert) Musées cantonaux du Valais, Sion. Michel Martinez

swissinfo.ch: Noch wichtiger ist, dass zu dieser Zeit Erscheinungen auftraten, welche die moderne Schweiz bis heute prägen, vor allem in Bezug auf die Sprachen.

J. F.: Es ist in der Tat so, dass sich die Sprachgrenze während dieser Epoche begann herauszubilden. Im Westen befanden sich die Burgunder, die sich ab 443 um Genf niederliessen. Dieser germanische Volksstamm beschützte die lokalen gallo-römischen Bevölkerungen und deren Sprache. Im Osten waren die Alemannen, die sich ab 506 am Südufer des Bodensees niederliessen. Sie unterwarfen die lokalen Bevölkerungen und trieben die germanische Sprache voran.

Die Alemannen knabberten allmählich am gallo-römischen Territorium, das von den Burgundern abhing. Die aktuelle Sprachgrenze entspricht in etwa dem Stärkengleichgewicht zwischen dem Herzogtum der Alemannen und dem Burgunder-Königreich. Im 12. Jahrhundert ging diese stete Entwicklung zu Ende.

Die Burgunder hatten die lokalen Bevölkerungen nicht einfach aus purer Herzensgüte beschützt. Einfach gesagt: Da sie nicht sehr zahlreich waren und umgeben von anderen, mächtigeren germanischen Stämmen (Franken, Alemannen, Ostgoten, Westgoten) hatten sie ein dringendes Bedürfnis, mit den Gallo-Römern auszukommen, um zu überleben.

Das Spannendste während dieser Zeit war die Konfrontation zweier Kulturen, die aus kultureller und sozialer Sicht heraus betrachtet völlig unterschiedlich waren. Germanen und Gallo-Römer mussten miteinander auskommen und sich letztlich zusammentun, um die mittelalterliche Welt zu schaffen.

swissinfo.ch: Bevölkerungsmigrationen und kulturelle Konfrontationen. Noch etwas, das sehr aktuell tönt…

J. F.: In der Tat könnte man sagen, dass es heute etwas Ähnliches gibt. Und man könnte sich vorstellen, dass aus der Konfrontation eine Mischung hervorgeht, und aus dieser Mischung schliesslich etwas Neues. Die Zukunft wird es zeigen.

Boîte décorée de pierres précieuses.
Merowingische Schachtel aus dem Schatz der Abtei Saint-Maurice. (7. Jahrhundert) © Glassey Jean-yves, Martinez Michel

swissinfo.ch: Auch die unterschiedlichen politischen Sensibilitäten von Romands und Deutschschweizern dürften ihre Wurzeln in dieser Epoche haben.

J. F.: Die Germanen hatten eine sehr einfache Auffassung, was den Staat anging. Man war Teil eines Staats, einer Nation oder eines Volkes, wenn man einem König folgte. Wenn ein Vandale einem König der Franken folgte, wurde er ein Franke.

Die eng in die lokale Bevölkerung integrierten Burgunder entwickelten hingegen ein viel stärkeres Staatskonzept, das sich am früheren römischen System orientierte. Dies zeigt sich wahrscheinlich noch heute bei Abstimmungsresultaten. Man spürt die Erben der Burgunder bei den Westschweizern und vielleicht den Bernern von heute, die etatistischer sind als die Menschen in der Ostschweiz, Nachfahren der Alemannen. 

Auch unsere Verwaltungsgeografie ist stark von dieser Zeit geprägt. Mit den grossen römischen Städten ging es bergab, während ländliche Regionen stärker besiedelt wurden. Die meisten Ortschaften, die wir heute noch kennen, entstanden damals, auf der Grundlage von Pfarreien.

Eine weitere Besonderheit sind die kleinen Städte, die im 7. Jahrhundert die Machtzentren von Bischöfen oder Grafen beherbergten und später zu Kantonshauptstädten wurden: Lausanne, Sitten, Chur, Genf, Basel.

Man merkt tatsächlich, dass wir Erben und Erbinnen einer Struktur von Städten und Ortschaften sind, die zu dieser Zeit geschaffen wurde.

Einige Eckdaten

Historiker betrachten das Jahr 476 allgemein als Ende der Antike und Beginn des Frühen Mittelalters. Dieses Datum markiert die Absetzung des letzten weströmischen Kaisers durch einen Barbarenkönig.

Es gibt jedoch unterschiedliche Auffassungen, was die Dauer angeht: Generell wird die Epoche meist als Zeitraum zwischen dem Ende des Weströmischen Reichs (476) bis ins Jahr 1000 bezeichnet.

Es gibt jedoch auch Experten, darunter die Gestalter der Ausstellung von Sitten und Lausanne – welche die Anfänge des Frühen Mittelalters schon im Jahr 350 sehen, das den Beginn der endgültigen Schwächung der römischen Zentralgewalt markiert. Und gewisse Historiker sehen das Ende bereits 888, als die politischen Strukturen der Karolinger verschwanden.

Auch mit dem Ende des Mittelalters insgesamt (Früh-, Hoch- und Spätmittelalter) werden unterschiedliche Daten verbunden. Häufig wird 1453 genannt, das Jahr des Falls Konstantinopels und des Untergangs des Oströmischen (Byzantinischen) Reichs. Mehr und mehr Historiker verbinden das Ende aber heute oft mit 1492, dem Datum der Ankunft von Christoph Kolumbus in Amerika.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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