Wie Fanny Wobmann der humanitären Hilfe der Schweiz den Spiegel vorhält
Die Neuenburger Autorin Fanny Wobmann, Tochter eines ehemaligen Beamten der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), wirft einen kritischen Blick auf die humanitäre Hilfe, die der afrikanischen Bevölkerung angeboten wird. Ihr Buch reiht sich in eine Bewegung, die auch von anderen Schweizer Schriftsteller:innen getragen wird.
Ein Wald. Fanny Wobmann erhält ihn an einem Wintertag als Erbe. Sechs Hektar, die sie sich mit ihren beiden Schwestern teilt, liegen unterhalb von La Chaux-de-Fonds, wo sie vor 40 Jahren geboren wurde.
«Ich war also Miteigentümerin eines Stücks Natur. Es war beeindruckend, schön und verstörend», schreibt sie auf der ersten Seite ihrer Erzählung Les arbres quand ils tombent (Quidam éditeur, ParisExterner Link).
Ihr Vater, ein Holzfäller, hatte den Wald gekauft und ihn dann seinen Töchtern vermacht. Ein wertvolles Geschenk für Fanny Wobmann, die bekennt, dass sie die Natur sehr liebt.
In dem ererbten Wald, in dem sie spazieren geht, entdeckt sie plötzlich den Begriff «Grenzen“. Die Grenzen eines Gebiets, das nun ihr gehört. Von da an verzweigt sich ihre Erzählung und verlässt La Chaux-de-Fonds.
Wir befinden uns nun auf dem afrikanischen Kontinent: Senegal, Ruanda, Madagaskar, wobei wir zwischen diesen Ländern und der Schweiz hin- und herreisen.
Die Grenzen erweitern sich je nach den Begehrlichkeiten. Europa hatte in Afrika seine Kolonien, die Schweiz leistet dort humanitäre Hilfe, die grosszügig, manchmal kalkuliert oder fehlgeleitet war.
Ein Widerspruch, den Schweizer Autoren und Autorinnen in ihren Büchern thematisiert haben: Lukas Bärfuss, Anne-Sophie Subilia und jetzt Fanny Wobmann.
Altruistischer Antrieb
Die Autorin, Dramatikerin und Schauspielerin Fanny Wobmann schreibt Theaterstücke und Romane, darunter Nues dans un verre d’eau, der ins Deutsche (Am Meer dieses Licht) Externer Linkund Russische übersetzt und 2017 beim französischen Verlag Flammarion veröffentlicht wurde.
Sie ist mehrfache Stipendiatin und wird im Juni dieses Jahres in der Fondation Michalski (Kanton Waadt) wohnen, um an ihrem nächsten Buch zu schreiben. Thema: Mutterfiguren.
«Soeben wurde mir mitgeteilt, dass ich für Les arbres quand ils tombent Preisträgerin des Prix des librairies suisses Payot 2024 bin», berichtet sie stolz.
Fanny Wobmann hat an der Universität Neuenburg einen Master in Soziologie erworben und interessiert sich für Feminismus, Chancengleichheit, Integration und vor allem für die Rassenfrage.
Und das aus gutem Grund: Vier Jahre Aufenthalt auf dem afrikanischen Kontinent haben ihr bewusst gemacht, wie sehr die «weisse Dominanz“ schaden kann.
Von ihren Eltern hat sie nicht nur einen Wald geerbt, sondern auch einen starken altruistischen Antrieb, der sie, wie sie sagt, «zum Respekt vor den Menschen und zur Demut geführt hat, die einen lehrt, sich nicht zu sehr in den Vordergrund zu drängen“.
Eines Tages stiess ihr Vater, der eine Ausbildung an der interkantonalen Försterschule in Lyss im Kanton Bern absolviert hatte, auf eine Anzeige der Deza (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, ein Organ des Aussenministeriums), in der eine Stelle im Senegal angeboten wurde. Er war begeistert. Und wurde eingestellt.
Schwarze und Weisse
Er zieht mit seiner Frau in den Senegal, wo er als Lehrer für Waldarbeit arbeitet. Schon bald wird er mit den Problemen konfrontiert, die sich aus den streng hierarchischen Beziehungen zwischen Schwarzen und Weissen ergeben. Aber auch aus den Stereotypen der humanitären Hilfe, welche die Schweiz trotz einiger Mängel auf den Olymp der Perfektion hebt.
Später arbeitete er, wiederum für die Deza, in Ruanda und Madagaskar, wo Fanny Wobmann als Kind und Jugendliche gelebt hat.
Als ihre Eltern in den Senegal zogen, war Fanny Wobmann noch nicht geboren. In ihrem Buch, das eine Mischung aus Tagebuch und (Selbst-)Suche ist, berichtet sie von ihren Erlebnissen.
Sie erzählt, wie ihre Eltern nach ihrer Ankunft von einem Schweizer Entwicklungshelfer besucht werden, der sie empfangen soll. Seine Worte sind schockierend.
Der Mann drückt «mit Selbstvertrauen und einem kleinen, komplizenhaften Lächeln die Schwierigkeit, aber auch den grossen Nutzen der Arbeit der Deza angesichts der Inkompetenz und der Dummheit des politischen Systems in Senegal aus“.
Fehlgeleitete Hilfe
Um mehr über die Aufgaben der Deza zu erfahren, geht die Neuenburger Schriftstellerin Jahre später zu einer Schweizer Freundin ihrer Eltern, die sich in Afrika auskennt.
«Sie lebte wie wir in Madagaskar, hatte aber einen politisierteren Blick auf die Situation in diesem Land“, erzählt Fanny Wobmann. «Sie war es, die mir ganz klar sagte, dass die lokale Bevölkerung keine humanitäre Hilfe wolle, weil sie nicht auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten war. Die Hilfe kam letztlich dem madagassischen Staat zugute und entlastete ihn von jeglicher Verantwortung gegenüber seinen Bürgern.“
Dasselbe Bild zeichnet auch eine andere Westschweizer Schriftstellerin: Anne-Sophie Subilia, die in ihrem Buch L’Épouse Externer Link(erschienen 2022) den Alltag eines Delegierten des IKRK (Internationales Komitee vom Roten Kreuz) und seiner Frau in der israelisch beherrschten Stadt Gaza schildert.
Wir schreiben das Jahr 1974. Die Frage ist immer noch aktuell: Was nützt humanitäre Hilfe für Menschen, die von bewaffneten Konflikten oder Hungersnöten bedroht sind?
Die entmutigende Antwort lässt Anne-Sophie Subilia eine Palästinenserin geben, die über ihre Landsleute in den Gefängnissen des jüdischen Staates spricht und dem IKRK-Delegierten sagt: «Sie sind den Israelis nützlich, denn alles, was Sie für die Gefangenen tun, haben die Israelis weniger zu tun.»
Der deutschsprachige Schriftsteller Lukas Bärfuss hat in seinem Buch «Hundert Tage, hundert Nächte» auf die Missstände im humanitären System hingewiesen.
Das Buch, das bereits vor 15 Jahren erschien, spielt in Ruanda, wo 1994 ein Völkermord stattfand. Auch die humanitäre Hilfe, die die Deza damals in diesem Land leistete, wird in Frage gestellt.
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Ein Schutzschild, dennoch
2009 sagte Lukas Bärfuss zu SWI swissinfo.ch: «Ich frage mich, wie eine Demokratie wie die unsere es akzeptieren konnte, im Herzen einer Diktatur ein Kooperationsbüro einzurichten. Die Vorstellung, dass man unter solchen Bedingungen unpolitisch bleiben kann, ist falsch. Unsere Hilfe ging an eine Minderheit, an die Machthaber (zwangsläufig!), d.h. an diejenigen, die später den Völkermord verübten. Die Ärmsten, die uns wirklich brauchten, haben nicht von unserer Unterstützung profitiert.“
Wie Anne-Sophie Subilia und Lukas Bärfuss weiss auch Fanny Wobmann, dass die humanitäre Hilfe einige Lücken aufweist. Dennoch sagt sie: «Die Hilfe für die Bevölkerung bleibt ein Schutzschild, das die Ärmsten davor bewahrt, in die Verzweiflung zu stürzen.»
Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Französischen: Marc Leutenegger
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