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“Wutbürger” könnten den Ausschlag geben

Die heutige Zuwanderung sei für die Schweiz "weder kulturell noch mengenmässig verkraftbar", mahnen die Befürworter der Masseneinwanderungs-Initiative. Keystone

Überraschung in der zweiten Umfrage zur Abstimmung vom 9. Februar: Das Lager der Befürworter der "Masseneinwanderungs-Initiative" der Schweizerischen Volkspartei konnte gegenüber der ersten Umfrage um 6% zulegen. Noch verfügen die Gegner über eine Mehrheit, allerdings könnten "Wutbürger" das Zünglein an der Waage spielen.

Der Mobilisierungsschub auf der rechten Seite des politischen Spektrums habe “in einem drastischen Mass” stattgefunden, kommentiert Politologe Claude Longchamp das Ergebnis der zweiten repräsentativen Umfrage, die sein Institut gfs.bern im Auftrag der SRG SSR vor der Abstimmung vom 9. Februar durchgeführt hat.

Konkret hat das Lager jener, welche die “Masseneinwanderungs-Initiative” der Schweizerischen Volkspartei (SVP) annehmen wollen, von 37 auf 43% zugenommen, während die Gegner noch auf 50% (-5%) Ablehnung zählen können. Dies sei eine “markante Veränderung” gegenüber dem Normalfall, in dem im Verlauf des Abstimmungskampfs das Lager der Gegner zunehme.

Unzufriedenheit, Ängste und Hoffnungen

Die Initiative fordert die Einführung von Kontingenten für alle Kategorien von Ausländern und stellt die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union (EU) in Frage. Die Gegner warnen davor, dass bei einer Annahme die Bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU gefährdet werden könnten.

Auffällig ist bei dieser Vorlage, dass ein grosser Teil jener Befragten, die ein Misstrauen gegenüber der Regierung hegen, unbedingt an die Urne gehen will. “Die Wutbürger wurden im Lauf der Kampagne angesprochen und wollen sich jetzt äussern”, erklärt Longchamp.

Dies sei die typische Reaktion auf eine populistische Kampagne, “die Unzufriedenheit, Ressentiments, Ängste, Hoffnung und aktuelle Konflikte im Verhältnis von Eliten und Volk ausdrückt und instrumentalisiert, indem sie Gefühle anspricht und einfache Lösungen vorstellt”.

Die Kampagnen für und gegen die Zuwanderungs-Initiative – oder Abschottungs-Initiative, als was sie die Gegner bezeichnen – seien “heftig”, so der Politologe weiter. Jeden Tag erschienen Plakate und Inserate. “Die Medienaufmerksamkeit ist gigantisch.”

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Meinungen zur Eindämmung der Einwanderung

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Immigrationspolitik der Schweiz basiert auf dem freien Personenverkehr mit der Europäischen Union und einem beschränkten Zugang für Drittstaaten. Die Landesregierung befürchtet, dass eine Annahme der Initiative die bilateralen Verträge mit der EU gefährden könnte. (Julie Hunt, swissinfo.ch)

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Tessiner Mehrheit

Bei der Detailstudie fällt besonders das Gefälle zwischen den Sprachregionen auf. So kann die Initiative in der italienischsprachigen Schweiz auf eine satte Mehrheit von 54% zählen, während lediglich 34% der Befragten ein Nein in die Urne legen wollen.

In der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz überwiegen die Gegner, doch auch in diesen beiden Sprachregionen hat das Lager der Befürworter seit der ersten Umfrage zulegen können.

Zudem erhärtet die Studie die Annahme, dass die Initiative in ländlichen Gegenden grössere Chancen hat als in städtischen, und dass Menschen mit tieferer und mittlerer Schulbildung eher dafür sind.

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Resultate der 2. Umfrage

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Dazu wurden zwischen dem 20. und 25. Januar 1420 Stimmberechtigte aus allen Landesteilen und Sprachregionen der Schweiz per Telefon befragt.

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Prognose unmöglich

Longchamp gibt allerdings zu bedenken, dass die Umfrage lediglich die Stimmung knapp drei Wochen vor der Abstimmung abbilde und bei dieser Vorlage keine Aussage zulasse. Entscheidend sein werde schliesslich die Schlussmobilisierung nach politischen Lagern.

Denn der SVP sei es nicht gelungen, “massenweise Zustimmung von Mitte-Links zu gewinnen”. Die Vorlage sei ein SVP-Anliegen geblieben, obwohl auch Sympathisanten anderer Parteien die Idee mittrügen, sich allerdings nicht an der Urne dazu äussern möchten, wie die Umfrage gezeigt habe.

Deshalb habe die SVP in den letzten Wochen nun mit provokativen Plakaten die “Wutbürger” angesprochen, um diese zu mobilisieren. So sei es “bemerkenswert”, wie viel Wirkung die Kampagne bei den Parteiungebundenen gezeigt habe. Die Zustimmung in dieser Gruppe ist denn auch von 34% in der ersten Umfrage auf derzeit 49% angestiegen.

Das Institut gfs.bern hat für die zweite Meinungsumfrage im Hinblick auf die Volksabstimmung vom 9. Februar 2014 zwischen dem 20. und 25. Januar 2014 eine repräsentative Auswahl von 1420 Stimmberechtigten in allen Landesteilen und Sprachregionen der Schweiz telefonisch befragt.

Aus Datenschutzgründen stellen die Behörden die Koordinaten von Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern für Umfragen nicht mehr zur Verfügung. In der vorliegenden SRG-Umfrage ist deren Abstimmungsverhalten somit nicht berücksichtigt.

Die Stichprobenfehler-Quote bei dieser Umfrage beträgt +/- 2,7 Prozent.

FABI mit satter Ja-Mehrheit

Diese Mobilisierung könnte bei der zweiten Vorlage, dem Bundesbeschluss über die Finanzierung und den Ausbau der Eisenbahninfrastruktur (FABI), dem Nein-Lager mehr Stimmen zuführen, meint Longchamp. Denn gemäss der Umfrage sind bei dieser Vorlage jene Personen dagegen, die der Regierung misstrauen.

Doch noch sieht es nach einem klaren Ausgang der Abstimmung aus: Wie bei der ersten Umfrage sind 56% der Befragten für das 6,4 Milliarden schwere Paket FABI, das Gegner-Lager konnte um einen Prozentpunkt auf 28% zulegen. Allerdings wissen 16% aller Befragten noch nicht, wie sie stimmen werden.

Diesen hohen Anteil bezeichnet Politologin Martina Imfeld von gfs.bern als “überraschend”. “Das macht das Voraussehen des Abstimmungs-Ausgangs schwierig.” Aus heutiger Sicht aber rechnet das Institut eher mit einem Ja.

Auffallend ist hier die mit 73% sehr hohe Akzeptanz von FABI in der italienischsprachigen Schweiz. “Der Kanton Tessin ist ein Nutzniesser dieser Vorlage”, kommentiert Imfeld.

Abtreibung: Deutliches Nein

Bei der dritten Vorlage schliesslich, der Volksinitiative “Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache”, hat sich in den letzten drei Wochen wenig bewegt. Die Befürworter der Forderung, dass Krankenkassen die Kosten von Schwangerschaftsabbrüchen nicht mehr übernehmen sollen, konnten auf 36% (+1%) zulegen, das Lager der Gegner blieb mit 58% konstant gross.

Dies sei keine Überraschung, sagt die Politologin. Die Meinungen zu diesem Thema seien schon lange vor der Lancierung der Initiative gemacht gewesen. Seit 2002 sind Schwangerschaftsabbrüche in der Schweiz legal. Das Forschungsinstitut rechnet deshalb am 9. Februar mit einer Ablehnung der Vorlage.

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