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Skyguide Prozess: Vier Schuld- und vier Freisprüche

Skyguide hat inzwischen verschiedene Arbeitsabläufe verbessert. Keystone

Im Prozess nach der Flugzeug-Kollision 2002 beim deutschen Überlingen hat das Gericht in der Urteilsbegründung den Verantwortlichen der Schweizer Flugsicherung Skyguide Betriebsblindheit vorgeworfen.

Drei Mitarbeiter wurden wegen fahrlässiger Tötung zu zwölf Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, ein vierter zu einer Geldstrafe. Vier weitere Angestellte wurden freigesprochen.

Staatsanwalt Bernhard Hecht hatte im zweiwöchigen Prozess im Mai Strafen von 15 Monaten beantragt.

Er zeigte sich grundsätzlich befriedigt, dass das Gericht im zürcherischen Bülach die Organisation von Skyguide kritisiert habe und es zu Verurteilungen gekommen sei.

Hecht will nun die schriftliche Begründung abwarten, bevor er einen allfälligen Weiterzug prüft.

Freigesprochen wurde unter anderen derjenige Fluglotse, der während des Unglücks – im Einverständnis mit seinem Arbeitskollegen- im Pausenraum war. Er habe sich auf die Erlaubnis vom ersten Lotsen, in die Pause zu gehen, verlassen dürfen, hiess es.

Ebenfalls Freisprüche gab es für einen Systemmanager, einen Projektmitarbeiter und den Dienstleiter, der am Abend – vor der Übergabe an die Nacht-Crew – im Kontrollraum verantwortlich war.

Ein-Mann-Besetzung unzulässig

Unzulässig war gemäss Urteil die langjährige Praxis bei Skyguide in Zürich, dass nachts bei wenig Verkehr nur ein Flugloste am Radar im Kontrollzentrum arbeitete.

Die Chefs hätten dies nicht tolerieren dürfen, fand das Gericht. Denn dies verstosse gegen anerkannte Sicherheitsgrundsätze in der Flugsicherung.

“Bei Anwesenheit von zwei Fluglotsen hätte das Unglück wohl verhindert werden können”, sagte der Richter bei der Urteilseröffnung. Der Flugsicherheit hätte alles untergeordnet werden müssen. Die Sicherheit habe sich nicht am Normalfall, sondern am Notfall zu orientieren.

Bei einem Ein-Mann-Betrieb fehle die aus Sicherheitsgründen nötige Redundanz. Mit menschlichem Versagen und technischen Störungen müsse immer gerechnet werden.

Leitung versagte

Mit einer ausreichenden personellen Ausstattung des Kontrollzentrums wären solche Defizite ausgeglichen worden. Immerhin müsse beispielsweise auch mit dem Ausfall des Fluglotsen wegen eines Herzanfalls gerechnet werden.

Die drei Kadermitarbeiter hätten als Verantwortliche dafür sorgen müssen, dass stets zwei Lotsen am Arbeitsplatz waren, hiess es weiter. Eine solche Anordnung sei in der Nacht vom 1. Juli 2002 umso mehr nötig gewesen, als die Arbeit des Fluglotsen durch Systemarbeiten erschwert war.

Ein wichtiges Warninstrument am Radar stand nicht zur Verfügung. Erschwerend hinzu kam ein verspäteter Anflug auf den Flugplatz Friedrichshafen und ein technischer Defekt der Telefonanlage.

Kollisionskurs zu spät bemerkt

Der allein anwesende Fluglotse bemerkte um etwa 23 Uhr 30 zu spät, dass sich ein Passagierflugzeug der Bashkirian Airlines und eine DHL-Frachtmaschine auf Kollisionskurs befanden.

Weil der Lotse das eine Flugzeug nach unten ausweichen lassen wollte, gleich wie es das Warnsystem an Bord der anderen Maschine anordnete, kam es im Bodenseegebiet in einer Höhe von rund 11 Kilometern zum fatalen Zusammenstoss.

Die 69 Insassen des russischen Flugzeugs – unter ihnen 49 Kinder und Jugendliche auf dem Weg in die Ferien nach Spanien – sowie die beiden Piloten des DHL-Jets kamen ums Leben.

Anderthalb Jahre nach dem Unglück wurde der Fluglotse von einem Russen, der beim Unglück Frau und Kinder verloren hatte, getötet.

Laut Skyguide-Sprecher Patrick Herr ist klar, dass das Unglück aufgrund fehlerhafter Zusammenarbeit von Mensch und Technik geschah. Wichtig sei vor allem auch, dass nicht alle Schuld dem getöteten Fluglotsen zugeschoben werde, sondern dass auch leitende Mitarbeiter schuldig gesprochen wurden.

swissinfo und Agenturen

1.7.2002: Beim Crash einer Bashkirian Airlines (BAL)-Passagiermaschine und einem DHL-Frachtflugzeug über Überlingen am Bodensee sterben alle 71 Insassen der beiden Maschinen. Die für den Luftraum zuständige Schweizer Flugsicherung Skyguide wird kritisiert.

27.6.03: Die Schweiz, Deutschland und Skyguide bilden einen Entschädigungspool für die Hinterbliebenen der Opfer.

24.2.04: In Kloten wird der Skyguide-Fluglotse, der zur Crash-Zeit allein gearbeitet hatte, erstochen. Täter ist ein Russe, der bei der Katastrophe seine Familie verlor. Er wird später zu 8 Jahren Zuchthaus verurteilt, die Strafe darauf auf 3 Jahre reduziert.

19.5.04: Die deutsche Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung kritisiert Skyguide und die BAL-Crew.

5.7.04: Die Staatsanwaltschaft Konstanz ermittelt gegen Skyguide.

20.2.05: Angehörige der Opfer verklagen Skyguide und BAL auf Genugtuung.

29.6.05: BAL verklagt Deutschland wegen mangelnder Flugsicherung auf Schadenersatz.

27.7.06: Das Landgericht Konstanz gibt der BAL-Klage statt und verurteilt Deutschland zu Schadenersatz. Die Hauptschuld liege indes bei Skyguide. Deutschland legt Berufung ein.

7./8.8.06: Die Staatsanwaltschaft Konstanz tritt das Strafverfahren gegen Skyguide-Mitarbeiter an die Schweiz ab. Die Staatsanwaltschaft Winterthur erhebt Anklage gegen acht Skyguide-Mitarbeiter wegen fahrlässiger Tötung. Sie fordert Haftstrafen zwischen 6 und 15 Monaten.

18.12.06: Skyguide einigt sich mit Angehörigen von 30 Absturz-Opfern auf Entschädigung in unbekannter Höhe. Die Familien der restlichen 41 Opfer waren früher entschädigt worden.

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