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Die harte Realität hinter der alpinen Idylle

Sennen stehen vor einem Haus und beten
Zusammen mit Adrian Arnold (erster von rechts), dem Präsidenten der Alpgenossenschaft, versammeln sich Bauern und Helfer zum Gebet, bevor sie von der Alp hinabsteigen. SWI swissinfo.ch / Thomas Kern

Es ist weder die Welt von Heidi noch jene idealisierte aus zahlreichen Fernsehserien. Das Leben auf der Alp ist hart, geprägt von frühem Aufstehen und endlosen Tagen, aber bereichert durch unvergessliche Momente. Reportage über den Alpabzug von Hinterfeld, einer Alp im Kanton Uri.

Evi schaut sich verwirrt um. In der Kuhherde sucht sie ihre Lieblinge, drückt sich an sie, umarmt sie und streichelt sie ausgiebig. Währenddessen laden die Bäuerinnen und Bauern ihre Tiere auf Anhänger, um sie in die Ställe im Tal zurückzubringen.

Evi hat Tränen in den Augen. «Jetzt ist es wirklich vorbei», sagt sie und wendet den Blick der leeren Wiese zu, auf der zuvor etwa siebzig Kühe und Rinder gestanden haben.

Es ist kurz nach Mittag in Wassen im Kanton Uri. Einige Stunden zuvor fand der mit Spannung erwartete Höhepunkt der Alpweidesaison statt: der Abzug von der Alp Hinterfeld im Meiental, etwas unterhalb des Sustenpasses.

Das Ritual des Alpabzugs

Während sich vor dem Gotthard-Strassentunnel wie jedes Wochenende die Autos stauten, wurde das Dorf mit seiner berühmten Kirche von einer anderen Art von Prozession überflutet: bunt und laut.

An der Spitze gingen die Ziegen, dann folgte die erste Kuhherde, angeführt von den Hirten Adrian und Tom. Etwa zehn Minuten später kam die zweite Gruppe unter der Leitung der Käserin Sandra und ihrer Gehilfin Evi.

Der Alpabzug wurde von zwei unterschiedlichen Gruppen empfangen: 2000 Personen – Feriengäste und Einheimische –, die dem alten Ritual einer idealisierten und fernen Welt beiwohnten. Sie filmten und betrachteten es auf den Handybildschirmen, als wäre es unwirklich.

Blick auf einen Berg
Blick von der Hütte auf die Gipfel der Oberplattiflüe. Unten links ist die Strasse zum Sustenpass zu sehen. SWI swissinfo.ch / Thomas Kern

Der Abstieg von der Alp ist ein von den Alpbewohnenden sorgfältig inszeniertes Spektakel. Sie sind stolz, an der Spitze der Herde zu gehen: Es ist eine Parade der schönsten Tiere, die den ganzen Sommer über gepflegt und versorgt wurden.

Vor allem Paul Epp geniesst diese Tradition. Seit fast 30 Jahren kümmert er sich um die Organisation des Alpauf- und -abzugs auf der Hinterfeldalp.

«Es erfüllt mich mit Freude, die Kühe mit ihren Girlanden und den Parade-Glocken um den Hals zu sehen», erzählt der 66-Jährige, der viele Tage und Abende damit verbringt, Dekorationen zu reparieren und neue herzustellen: Girlanden, die am Rücken und an der Brust der Tiere befestigt werden, Kronen und Kopfschmuck sowie Nasenbänder.

Besondere Aufmerksamkeit gilt den Leitkühen, die mit den schönsten und auffälligsten Kompositionen geschmückt sind. Eine Glocke kann dabei bis zu 15 Kilogramm wiegen.

«Wie wir warten auch sie gespannt auf diesen Moment und wären enttäuscht, wenn wir ihnen keine besondere Aufmerksamkeit schenken würden», sagt Epp lächelnd.

«Es ist nicht die Welt von Heidi»

Vielleicht sind es die makellosen weissen Hemden, welche die Hirten zu diesem Anlass unter ihrer traditionellen Bergbauernkleidung tragen, oder die idyllischen Szenen im Fernsehen. Sie vermitteln uns ein verzerrtes und idealisiertes Bild vom Leben in den Alpen. Die Realität sieht jedoch anders aus.

Sandra Igl beschreibt uns den Alltag in Hinterfeld. «Der Wecker klingelt um 3:45 Uhr, sieben Tage die Woche. Der Tag endet, vor allem in den ersten Wochen, nicht vor 20 Uhr. Die Schichten dauern fast 17 Stunden», erzählt die im deutschen Garmisch-Partenkirchen aufgewachsene Käserin, die seit 15 Jahren dem Ruf der Berge folgt.

«Im Frühling überkommt mich immer eine Art Almkrankheit», sagt sie lächelnd. «Aber es ist hart. Man arbeitet hundert Tage lang ohne Unterbrechung. Auch das Zusammenleben mit anderen Menschen, die zu Beginn der Saison noch völlig fremd sind, ist nicht zu unterschätzen. Das ist nicht immer einfach. Es ist nicht die Welt von Heidi.»

Doch Sandra gefällt das Leben auf der Alm. Sie beobachtet fasziniert, wie das Gras, das die Kühe fressen, zu Milch und schliesslich zu Käse wird, der für die vorbeikommenden Touristinnen und Touristen auf den Tisch kommt.

Zwei Frauen, die Käse herstellen
In den drei Monaten der Alpwirtschaft wurden etwa 115’000 Liter Milch zu elf Tonnen Alpkäse und anderen Milchprodukten wie Joghurt, Butter und Ziger (eine Art Ricotta) verarbeitet. SWI swissinfo.ch / Thomas Kern

Sandra verbrachte den Sommer auf Hinterfeld mit Patricia Forrer, die als Köchin, Hausfrau und Verantwortliche für den «Alp-Ladä» arbeitet, mit Evi Rigert, die als Käsehelferin tätig ist, mit Rinderhirt Adrian Petermann und Kuhhirt Tom Zurfluh.

Tom ist im Kanton Uri aufgewachsen und verbringt seinen zweiten Sommer auf der Alp am Sustenpass. «Letztes Jahr habe ich im letzten Monat der Saison die Verantwortung für die Rinder übernommen und jenen ersetzt, der vor Saisonende das Handtuch geworfen hatte», erzählt der junge Mann, der von Beruf Baumaschinenmechaniker ist.

«Es hat mir so gut gefallen, dass ich wiederkommen wollte, diesmal als Milchkuhhirte. Hier bin ich mein eigener Chef und bin immer an der frischen Luft.»

Auch er betont, dass die Arbeit hart ist, aber als Bauernkind wusste er, was auf ihn zukommt. Was ihn mit Freude erfüllte, waren zum Beispiel die Momente vor dem Sonnenaufgang, wenn die ersten Sonnenstrahlen hinter dem Bergkranz hervorkamen.

«Aber auch die Kühe zu hüten, jede einzelne kennenzulernen, ihren Charakter und natürlich ihren Namen zu erfahren, das hat mir Freude bereitet. Nur so konnte ich mich um sie kümmern, als wären es meine eigenen.»

Pasta, Würstchen und das Ende eines Traums

Jeden Sommer beherbergt die Alp Hinterfeld rund hundert Milchkühe und fünfzig Rinder von dreizehn Bäuerinnen und Bauern aus dem Kanton Uri. Die Weiden befinden sich nahe des Dorfs Färnigen am Fuss des Sustenpasses. Die Hütte und der Stall liegen auf fast 1700 Metern Höhe und sind mit dem Auto erreichbar.

Die Alp wird von einer Genossenschaft bewirtschaftet. Diese ernennt jedes Jahr ein Komitee, das für die Alpsaison und das Personal verantwortlich ist. In den drei Monaten der Alpwirtschaft werden etwa 115’000 Liter Milch zu elf Tonnen Alpkäse sowie zu anderen Milchprodukten wie Joghurt, Butter und Ziger (eine Art Ricotta) verarbeitet.

«Im Sommer wird die Milchleistung jeder Kuh dreimal gemessen: Ende Juni, Ende Juli und Anfang September», sagt Adrian Arnold, der Präsident der Genossenschaft. «Anhand dieser Daten wird der Ertrag jedes Tieres berechnet und daraus die Käsemenge, die jedem Züchter zusteht.»

Diese Aufteilung ist von grundlegender Bedeutung, da der Verkauf des Käses den Bäuerinnen und Bauern das Einkommen für die Sommermonate sichert. Arnold ist mit der Qualität des diesjährigen Käses zufrieden und überzeugt, dass er im Januar alles verkauft haben wird.

Bis dahin wird der Kuhhirte Adrian Petermann, der eigentlich Bäcker und Konditor ist, wahrscheinlich Tonnen von Brot und Tausende traditionelle Weihnachtsgebäcke in seiner Stadt Luzern gebacken haben. Mit mehligen Händen wird er vielleicht an die Morgenstunden zurückdenken, in denen er seine Kühe Aita, Alisa, Telegirl oder Salina gemolken hat.

«Das Schöne auf der Alp ist, dass der Rhythmus des Lebens nicht von der Uhr, sondern von den Tieren und der Natur bestimmt wird», erzählt der 20-jährige Adrian, während er ein von der Köchin Patricia Forrer zubereitetes Gericht aus Pasta mit Käse, Rahm und einer Wurst isst.

Im Sommer war sie ihm auch ein bisschen wie eine Mutter. «Jetzt möchte ich nach Hause zu meiner Familie und meinen Freunden zurückkehren, aber ich bin mir sicher, dass ich all das bald vermissen werde.»

Er wird auch Evi vermissen, mit der er viele schöne und unbeschwerte Momente geteilt hat, darunter den letzten Abend, als die beiden ausgelassen im leeren Stall getanzt haben. Für Evi hat sich mit dem Alpsommer ein Lebenstraum erfüllt: einen Sommer auf der Alp zu verbringen.

«Hier taucht man in eine andere Welt ein, eine geschützte Welt ohne viele äussere Einflüsse», sagt sie. An das frühe Aufstehen aber habe sie sich nie wirklich gewöhnt.

Auf die Frage nach ihrem schönsten Erlebnis leuchten ihre Augen: «Als die Kühe meine Stimme erkannt haben und mir gefolgt sind, um eine neue Weide zu erreichen.»

Die vom Kanton Graubünden festgelegten Lohnangaben dienen heute anderen Schweizer Kantonen als Vorbild. Wie immer sind die Daten jedoch mit Vorsicht zu geniessen: In der Praxis kann die Realität von den schriftlichen Vorgaben abweichen.

Auf den Bündner Alpen verdient ein Senner oder eine Sennerin zwischen 180 und 258 Franken pro Tag. Für einen Sennergehilfen (Zusenn) oder einen Hirten von Milchkühen, Mutterkühen oder Jungvieh liegt der Betrag zwischen 159 und 242 Franken. Die Vergütung variiert je nach Erfahrung und Ausbildung.

Auch die Abzüge für Unterkunft und Verpflegung sind in den Bündner Richtlinien festgelegt. Die Unterkunft kostet 11,50 Franken pro Tag, die Mahlzeiten werden wie folgt berechnet: 3,50 Franken für das Frühstück, 10 Franken für das Mittagessen und 8 Franken für das Abendessen. Für Vollpension beträgt der Betrag 33 Franken pro Tag. Insgesamt können die Abzüge somit 990 Franken pro Monat erreichen.

Eine erfahrene und entsprechend ausgebildete Käserin kann einen Nettotageslohn von 225,20 Franken erzielen, was bei 30 Arbeitstagen einem Monatslohn von fast 6800 Franken entspricht.

Laut Selina Droz, der Geschäftsführerin der Schweizerischen Alpwirtschaftlichen Gesellschaft, ist der Personalmangel die aktuell grösste Herausforderung für die Alpwirtschaft.

Tatsächlich wird es immer schwieriger, Arbeitskräfte zu finden. Die Arbeit ist hart, die Arbeitstage sind lang und die Löhne sind gering.

«Von der Verfügbarkeit von Personal hängt die Lösung der anderen Probleme ab, mit denen der Sektor konfrontiert ist: Klimawandel, Grossraubtiere und Waldverbreitung. Mit der Erwärmung des Klimas steigt beispielsweise die Waldgrenze immer weiter an. Um ihr Vordringen zu stoppen, braucht es Menschen mit Freischneidern und Kettensägen», so Droz.

«Und mit den Grossraubtieren ist es ähnlich: Die Rückkehr des Wolfs hat den Arbeitsaufwand vervielfacht. Es müssen Zäune errichtet werden, es werden Hirtinnen und Hirten gebraucht, welche die Schafe bewachen, und jemand, der oder die sich um die Schutzhunde kümmert. Kurz gesagt: Wenn es uns nicht gelingt, genügend Menschen zu motivieren, auf die Alp zu gehen, wird es wirklich schwierig sein, diese Probleme zu lösen.»

Zusammen mit der Hochschule für Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Lebensmittelwissenschaften in Zollikofen hat die Schweizerische Gesellschaft für Alpwirtschaft deshalb das Forschungsprojekt «Motiviertes und treues Alppersonal – Rahmenbedingungen für den Arbeitsort Alp» ins Leben gerufen. Ziel ist es herauszufinden, wie dieser Beruf attraktiver gestaltet werden kann.

Übertragung aus dem Italienischen mithilfe von Deepl: Christian Raaflaub

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