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Die Schweiz lanciert ein Seniorenmanagement im Ausland

Das Aussennetz der Schweiz ist immer wieder mit Schicksalen konfrontiert, die "ausserhalb des Portefeuilles der konsularischen Dienste" liegen, wie es diplomatisch heisst. Profaner ausgedrückt sind es Fälle zum Verzweifeln. Oder zum Kopfschütteln. Jetzt reagiert der Bund.

Die Ansprüche, die Schweizer Bürger:innen an die 168 Schweizer Vertretungen im Ausland stellen, sind gewachsen. So sehr, dass das Aussendepartement EDA dem Phänomen nun strategisch begegnet.

Im Departement von Bundespräsident Ignazio Cassis will man die Schweizerinnen und Schweizer im Ausland in diesem Jahr dafür sensibilisieren, dass der Bund nicht in jedem Fall für alles und jede:n da ist. Erinnert wird an das Prinzip der Eigenverantwortung.

Heim im Helikopter

Hintergrund der Präventionskampagne sind auch die Erfahrungen aus der Covid-Krise, doch die Problematik besteht schon länger. Von den überhöhten Erwartungen der Schweizer Bürger:innen an ihren Staat zeugen fordernde Briefe und Mails, die teils an den Aussenminister persönlich oder an Konsulate oder Politiker gesendet wurden – und später die Zentrale in Bern erreichten.

“Wir versuchen seitens des EDA maximal zu helfen, aber auch uns sind eben Grenzen gesetzt.” Dieser Satz wurde zum Mantra des stellvertretenden Staatssekretärs Johannes Matyassy während der Pandemie.

Der Direktor der konsularischen Direktion des EDA wiederholte ihn bei vielen Gelegenheiten und brachte dazu auch oft das Beispiel einer Forderung, die Schweiz solle einen Helikopter auf eine entlegene Insel vor Venezuela senden, um jemandem die Repatriierung zu ermöglichen.

Erwartungsmanagement

Es war eine spezielle Zeit: Im März und April 2020 flog die Schweiz in der grössten Rückholaktion ihrer Geschichte 7255 Leute mit 35 eigens dafür gecharterten Flugzeugen heim. Mit Ausnahme von wenigen Hundert haben inzwischen alle die Rechnungen bezahlt, die der Bund danach verschickte.

Nun aber herrscht wieder courant normal. Darauf will das Aussendepartement jetzt hinweisen. Es gehe auch nicht um die unbezahlten Rechnungen, heisst es beim EDA, zumal die ganze Arbeit im Hintergrund in solchen Fällen ohnehin kaum je in Rechnung gestellt werde.

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Tatsächlich beging die Schweiz mit ihrer Rückholaktion einen ordnungspolitischen Sündenfall. Sie war zu grosszügig und kümmerte sich nicht um das Prinzip der Subsidiarität. Dieses besagt, dass der Staat erst dann hilft, wenn alle andern Mittel und Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Man fragte zu Beginn der Covid-Krise aber niemanden, ob er nicht noch einen anderen Weg in die Schweiz nehmen könnte.

Auch die Staatsangehörigkeit war kein Mitreisekriterium: Die Schweizer Flugzeuge nahmen über 3000 Bürger:innen anderer Staaten mit, sowie in der Schweiz lebende Ausländer:innen. “Im Gegenzug konnten 2155 Schweizerinnen und Schweizer von Rückholflügen ausländischer Staaten profitieren. Die gegenseitige Unterstützung war Ausdruck gelebter internationaler Solidarität”, sagt EDA-Sprecher Andreas Heller.

Von Januar 2020 bis Mitte März 2020 stand in der Coronakrise laut Schweizer Aussendepartement die selbstständige, eigenverantwortliche Rückkehr von Schweizer Reisenden im Zentrum. Das EDA unterstützte rückkehrwillige Touristinnen und Touristen oder Geschäftsreisende mit der Vermittlung von verfügbaren Flügen. “Zusätzlich wurden punktuell und subsidiär einzelne organisierte Ausreisen durchgeführt, beispielsweise aus China, den USA – per Kreuzfahrtschiff – und der Mongolei”, sagt EDA-Sprecher Andreas Heller.

Angesichts der sich weltweit ausbreitenden Pandemie rief der Bundesrat Mitte März 2020 die Schweizer Reisenden dazu auf, in die Schweiz zurückzukehren. Die Operation “organisierte Ausreise” startete. Sie berücksichtigte die Tatsache, dass die Schweizer Reisenden nicht mehr mit eigenen Mitteln nach Hause zurückkehren konnten. Insgesamt wurden dabei 7’255 Personen in die Schweiz geflogen. 4’111 davon sind Schweizer Staatsangehörige oder ausländische Personen mit Wohnsitz in der Schweiz. 3’144 Passagiere waren ausländische Personen mit Wohnsitz im Ausland: 40% von ihnen aus Schweizer Nachbarstaaten und 23% aus anderen EU-Staaten; 37% waren Bürgerinnen und Bürger von Staaten ausserhalb der EU, inklusive dem Vereinigten Königreich.

Das Aussendepartement beruft sich bei der Kampagne nun auf die Gesetze. In der Bundesverfassung steht, dass “jede Person die Verantwortung für sich selbst wahrnimmt”. Vor allem aber heisst es im Auslandschweizergesetz unter Artikel 5: “Jede Person trägt die Verantwortung bei der Vorbereitung und Durchführung eines Auslandaufenthaltes oder bei der Ausübung einer Tätigkeit im Ausland.”

Alter, Armut, Krankheit

“Aging abroad” ist ein Teil des Projekts. Die Sensibilisierungskampagne soll ältere Auslandschweizer:innen dabei unterstützen, ihre Eigenverantwortung möglichst frühzeitig zu planen und möglichst lange wahrnehmen zu können. Es betrifft die 180’000 Schweizerinnen und Schweizer im Ausland im Pensionsalter, das sind 22% der globalen Auslandschweizer:innen-Gemeinschaft.

Die Senior:innen können einiges dazu beitragen, um der Schweiz und ihren Vertretungen, aber auch den Angehörigen, künftig einige Ungewissheiten – und unnötige Arbeit – zu ersparen: Patientenverfügungen, Vorsorgeaufträge, Anordnungen für den Todesfall und Testamente gehören dazu. Unter dem Strich sollen sie schlicht möglichst alleine dafür sorgen, dass Alter, Armut und Krankheit abgefedert werden.

Problemfall Thailand

Eine besondere Herausforderung in dieser Hinsicht ist Thailand. Dort ist der Rentneranteil doppelt so hoch wie im Durchschnitt anderer Länder.

Konkret sind es 9600 Schweizer Rentner:innen, zwei Drittel davon männlich, meist erst aufs Alter hin ausgewandert. Man spricht von einer “jüngeren Migration von älteren Leuten” – und die kennt ein spezifisches Kapitel: Die Verlegung ins Spital.

Jassturnier in der Senioren-Residenz Lotuswell in Hua Hin, Thailand. Standbild aus einem Promotionsvideo der Anlage. lotuswell.ch

Denn solange diese Rentner – teils in spezialisierten Altersheimen – ihren Jass klopfen können, ist alles bestens. “Doch dann kommt eine Krankheit”, sagt ein Diplomat. “Nach Hause in die Schweiz können sie nicht, dafür ist die Rente zu klein. Und ins Spital wollen sie nicht. Also soll es das Konsulat richten.”

Teure Krankenversicherungen

Generell kann das EDA aber nur aktiv werden, wenn ein:e Auslandschweizer:in mittellos und wirklich auf Hilfe angewiesen ist. Das ist Voraussetzung. Dazu kommt die Problematik der doppelten Staatsbürgerschaft. Wenn die ausländische Staatsangehörigkeit überwiegt, wird keine Sozialhilfe gewährt, was in Thailand selten zutrifft, aber in den meisten Ländern der Welt der Fall ist.

Verschärft hat sich die Situation durch eine harschere Gangart Thailands gegenüber den ausländischen Renter:innen infolge der Covid-Krise. Neu verlangt das asiatische Land bei Rentner:innen eine Krankenversicherung mit einer Grunddeckung von 100’000 US-Dollar. Auch die Überführungskosten im Todesfall müssen darin abgedeckt sein.

Eine solche Versicherung bringt den Senior:innen Kosten von 100 bis 200 Franken pro Monat. Gerade für jene, die aus finanziellen Gründen ausgewandert sind, kann das zum Problem werden. Solche die keine Krankenversicherung vorweisen können, entzieht Thailand nun das Langzeitvisum. Sie müssen das Land innert 90 Tagen verlassen. Knackpunkt: Mit fortgeschrittenem Alter oder mit einer Vorerkrankung ist der Abschluss einer privaten Krankenversicherung fast nicht mehr möglich.

Auf dem Tisch liegt nun die Forderung nach einem Sozialversicherungsabkommen zwischen der Schweiz und Thailand. Der in Bangkok lebende Auslandschweizer-Delegierte Josef Schnyder hat das Ziel, dass Schweizer Rentner:innen in der Schweizer Grundversicherung bleiben dürfen.

Ist es ein Problem der Schweiz?

Bei EDA-Vertreter Johannes Matyassy hat Schnyder erst vor kurzem wieder nachgebohrt. Dieser quittierte: “Problem erkannt!”, und verwies auf konsularische Konsultationen, welche die Schweiz im Juni mit Thailand durchführen wolle.

Lesen Sie dazu auch das Interview, das wir mit Johannes Matyassy über die Thailand-Problematik geführt haben:

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“Es gibt ein Problem mit den Erwartungen”

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Schweizer Botschaft in Thailand gilt als Hotspot der konsularischen Herausforderungen. Wir haben beim EDA nachgefragt weshalb.

Mehr “Es gibt ein Problem mit den Erwartungen”

Doch ist es das Problem der Schweiz, wenn Auslandschweizer:innen ihre Niederlassungsbewilligung in Thailand wegen einer fehlenden Versicherung nicht verlängern können?

In den Augen von Expat Josef Schnyder gibt es jedenfalls ein Interesse der Schweiz. Er sagt: “Bei einer Rückkehr in die Schweiz, mit kleiner Rente, ohne Vermögen, werden sie oft von der Sozialhilfe abhängig und fallen den Schweizer Steuerzahlern zur Last.”

“Bei einer Rückkehr fallen sie eventuell den Schweizer Steuerzahlern zur Last”: Rentner in Thailand. lotuswell.ch

Thailand ist aber nicht der einzige Fokus der Schweizer Kampagne. Brennpunkte des Rentnermanagements sind nebst Thailand die Costa Brava in Spanien sowie Marokko, der Balkan oder die Philippinen. 25 Schweizer Vertretungen aus besonders betroffenen Ländern haben letztes Jahr einen Fragebogen aus Bern erhalten und ausgefüllt zurückgeschickt. Die Zentrale hat nun den Überblick.

Die Kritik an den konsularischen Diensten ist in Auslandschweizer:innen-Foren manchmal heftig. “Die Schweizer Botschaften sind für gar nichts zuständig. Die geniessen die schöne Zeit und dann hat sich’s”, tönt es da. Oder: “Leider kann man von Konsulaten nicht allzu viel erwarten”, so ein Vorwurf in einer entsprechenden Facebook-Gruppe.

Zwischen Pflichtenheft und menschlicher Pflicht

Im EDA herrscht jedoch das Bewusstsein vor, dass die Schweiz ihren Bürger:innen im Ausland in vielen Fällen mehr Hilfe bietet, als gesetzlich vorgesehen wäre. Man begleitet auch mal jemanden ins Spital, und manche Einzelschicksale beanspruchen hunderte von Stunden Arbeit.

Mit ihrem proaktiven Vorgehen und der geplanten Sensiblisierungskampagne zum Thema “Aging abroad” ist die Schweiz anderen Ländern voraus. Vorgesehen ist auch der Einbezug von Pensionskassen, denn das ausbezahlte Geld ist manchmal schnell verprasst.

Und dann der Tod

Ein Thema ist schliesslich der Tod. Tritt er ein, ist das im Ausland oft komplizierter als in der Schweiz: Soll beerdigt oder heimgeführt werden? Wer bezahlt was?  EDA-Sprecher Andreas Heller sagt: “Zentral ist vor allem die Frage: ‘Und wer entscheidet, wenn keine Angehörigen mehr vorhanden sind oder wenn sich solche nicht als zuständig erachten?'”

Der Tod ist darum ein Fall für sich, auch weil mit ihm – zwangsläufig – jede Eigenverantwortung endet.

Keystone / Rungroj Yongrit

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