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Schweizer Lohnschutz – ein Modell für die EU?

Ignazio Cassis trifft Maros Sefcovic, beide lachen und geben sich die Hand
Der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis und Maros Sefcovic, Vizepräsident der EU-Kommission, im Juli 2023 in Brüssel. Keystone / Julien Warnand

Bern muss sein Verhältnis zu Europa neu ordnen. Ein Blick auf den Schweizer Lohnschutz zeigt: Die Gewerkschaften, auch die europäischen, nutzen dies als Hebel. Eine Analyse.

Die Gespräche zwischen Bern und Brüssel sind pausiert. In Bern liegt das EU-Dossier in der Schublade. Vor den Parlamentswahlen Ende Oktober wird diese nicht geöffnet.

Schon im November aber will Aussenminister Ignazio Cassis seine Kolleg:innen in der Schweizer Regierung dazu bringen, endlich mit Brüssel zu verhandeln.

Einen Lohnschutz wollen alle

In der Schweiz verläuft die Bruchlinie derweil zwischen dem linken Pol und dem rechten. Denn im Wesentlichen sind es zwei Vorgaben der EU, die im Inland für Widerstand sorgen: Die Rechte will nicht, dass der Europäische Gerichtshof zur letzten regelnden Instanz zwischen der Schweiz und der EU wird. Sie spricht von fremden Richtern. Solche wollen auch die meisten anderen Parteien nicht.

Und die Linke will nicht, dass Arbeitskräfte aus der EU in der Schweiz billig arbeiten. Sie verteidigt den Schweizer Lohnschutz. Das ist seit über 20 Jahren so – und das wollen auch praktisch alle anderen Parteien.

Dieser Lohnschutz also, das ist der harte Brocken, der unverhandelbare Kern der Schweizer Position. Das ist so, weil es um dieses Konstrukt im Land einen Konsens gibt.

So lohnt sich, dieses Hindernis, das Brüssel immer wegverhandeln wollte, nochmals zu betrachten. Denn vor allem ein Aspekt hat noch wenig Beachtung gefunden: Die Schweizer Gewerkschaften führen auch eine Stellvertreterschlacht.

Ein Kampf auch für Europas Gewerkschaften

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund, der diesen Lohnschutz an vorderster Front verteidigt, kämpft auch für die europäischen Gewerkschaften. Für diese nämlich ist die Schweiz mit ihren fein austarierten Lohnschutzmassnahmen das Vorbild schlechthin, die Speerspitze gar. Sie wollen das auch. Sie wollen das Modell, das die Schweiz entwickelt hat, EU-weit zur Anwendung bringen – und darum ist für sie strategisch wichtig, dass die Schweiz nicht nachgibt.

Luca Cirigliano ist Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. An einem Podium sagt er: “Unser europäischer Partner, der Europäische Gewerkschaftsbund, bittet uns: Sagt auf keinen Fall ja. Sagt nein. Denn wir wollen in der EU mehr flankierende Massnahmen. Wenn ihr nachgebt, sind unsere flankierende Massnahmen in der EU als Zukunftsprojekt gefährdet.”

Es geht um Höheres

SGB-Sprecher Urban Hodel ergänzt gegenüber swissinfo.ch: “Die EU-Kommission ist im Zweifel immer auf der Seite des Markts. Darum müssen wir uns in ganz Europa mit den Gewerkschaften dafür einsetzen, den Binnenmarkt so zu entwickeln, dass er den Arbeitnehmenden nützt.”

Roland Erne, Professor für Europäische Arbeitsbeziehungen am University College Dublin, bestätigt dies: “Es erscheint wie ein Konflikt zwischen der Schweiz und der EU, aber es ist Arbeitskonflikt. Und solche sind automatisch transnational.”

Halten wir kurz inne.

Sieben Jahre Verhandlungen um ein Rahmenabkommen, 2021 abgebrochen, seither zehn Sondierungsrunden, um das bilaterale Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der Schweiz zu umkreisen, begleitet von über 30 Gesprächen: Das alles führte ins vorliegende Nichts. Und dann sagen jene, die den Weg dorthin gewiesen haben: Es geht gar nicht um die Schweiz.

Sie sagen: Die Konfliktlinie verläuft mitnichten zwischen zwei Staaten, sondern zwischen Arbeitgebern und Arbeiterschaft.

Ein aufgedeckter Fall von Lohndumping von 2011: Slowakische Arbeiter, die in diesen Betten in einem Luftschutzbunker in Bern übernachteten, erhielten nach eigenen Angaben fünf Euro Lohn pro Stunde. Keystone / Peter Klaunzer

Verblüffend. Redet man mit gewerkschaftsnahen Personen, lernt man jedoch schnell: Das ist nicht erstaunlich, eher eine Selbstverständlichkeit. Denn die Linke ist seit jeher länderübergreifend orientiert, sie trägt die “internationale Solidarität” in ihrem Erbgut.

Die Europafrage als Hebel

Rebekka Wyler ist Co-Generalsekretärin der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz. Vor zehn Jahren schon kam sie in ihrer Doktorarbeit zur Erkenntnis, “dass sich das internationale Engagement der Schweizer Gewerkschaften in letzter Zeit wieder verstärkt hat”. Seither, im letzten Jahrzehnt, hat sich dies noch stark akzentuiert. Die Schweizer Linke, Gewerkschaften und Sozialdemokratische Partei, waren kaum je so international vernetzt, sagt Wyler.

Ihre Doktorarbeit, 364 Seiten schwer, trägt den Titel “Schweizer Gewerkschaften und Europa”. Vieles daraus liest sich heute wie eine strategische Vorwegnahme der letzten zehn Jahre Schweizer Europapolitik. Wyler hielt etwa fest, dass die “Europäisierung der Schweizer Politik den Gewerkschaften einen Hebelmoment geboten” habe, welche diese in den frühen 2000er-Jahren – alsbald erkannt – effizient genutzt hätten.

Eine historische Errungenschaft

Konkret: Die Diskussion um die Bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU hat den Gewerkschaften 1999 (Bilaterale I) und 2004 (Bilaterale II) erst ermöglicht, längst angestrebte, umfassende Lohnschutzmassnahmen in einem “eigentlichen Powerplay” durchzusetzen, so Wyler.

Die Rechte sprach damals von Erpressung. Die Schweiz brauchte für den Abschluss mit der EU die Zustimmung der Linken – und: “Die Gewerkschaften setzten im Rahmen eines ‘window of opportunity’ Forderungen durch, die ansonsten kaum eine Mehrheit gefunden hätten”, schreibt die SP-Kaderfrau.

So entstand vor 20 Jahren der Schweizer Lohnschutz, die grosse Errungenschaft der Schweizer Gewerkschaften, die sie nun verteidigen.

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Dessen Ursprung liegt im Lohngefälle, das die Schweiz umgibt. Weil dieses so steil ist, sprechen Fachleute von “Lohnklippe”. Ein Netto-Durchschnittslohn in der Schweiz liegt aktuell bei rund 6000 Franken. In Deutschland beträgt er 3300 Franken, in Österreich 2700 Franken, in Frankreich 2600, in Italien 1700 Franken. All diese Länder sind aber Teil desselben europäischen Binnenmarkts.

Das hat Konsequenzen. Eine italienische Gipser-Firma könnte in der Schweiz dreimal billiger arbeiten und – für italienische Verhältnisse – immer noch anständig verdienen. Das jedoch würde die Schweizer Gipser-Firmen unter Druck setzen, die Löhne ebenfalls nach unten anzupassen.

Man nennt das Lohndumping.

Es ist verpönt und ungerecht, weil der Schweizer Gipserbetrieb die Sockelkosten der Schweiz zu tragen hat, der italienische hingegen nicht. Beim Lohndumping kommen Unternehmen und Arbeitende also gleichermassen unter die Räder.

Gipser demonstrieren in weissen Kleidern
Gipser demonstrieren 2015 gegen Lohndumping auf einer Baustelle in Zürich. Keystone/ennio Leanza

Darum fanden sich Unternehmen und die Arbeitnehmenden-Vertreter in diesem zentralen Punkt von Anfang an. Die grossen politischen Gegner hatten – aus sehr unterschiedlichen Gründen – überraschend ein gemeinsames, vitales Interesse: Faire Preise und Löhne.

Steilpass für die Demokratie

So ergab sich ein Steilpass für die direkte Demokratie der Schweiz. Diese zwingt das Parlament oft zu weitgehenden Kompromissen, da alle Seiten stets mit Volksreferenden drohen können. Heraus kam in diesem Fall dieser fein geschliffene Diamant, der Schweizer Lohnschutz, der sich in der Praxis praktisch unverändert bewährt.

Tatsächlich hätte eine Regelung wie der Schweizer Lohnschutz in keinem anderen europäischen Land entstehen können. Denn noch etwas ist in der Schweiz speziell: Der ausserordentlich grosse Einfluss der Gewerkschaften in der Bundespolitik. “In kaum einem anderen Land der Welt gibt es so viele amtierende und ehemalige Gewerkschaftssekretäre im Parlament wie in der Schweiz”, sagt Roland Erne, der Schweizer Professor, der in Dublin internationale Gewerkschaftsforschung betreibt.     

Inzwischen aber hat sich auch die EU entwickelt. Sie ist nicht mehr die “neoliberale Arbeitsmarkt-EU, in der Arbeitnehmende als Ware betrachtet werden”, wie Gewerkschafter Luca Cirigliano noch vor kurzem klagte.

Revolution in der EU

Andreas Rieger, ein Schweizer Gewerkschafter, der jahrelang auch im Vorstand des Europäischen Gewerkschaftsbundes EGB agierte, spricht gar von einer “sozialen Kurve”. Die EU habe 2019, so erzählt Rieger, die eigenen Entsenderichtlinien verschärft. 2022 folgten Mindestlohnrichtlinien. “Das war ein Paradigmenwechsel, historisch”, sagt der Ex-EGB-Funktionär. Die EU-Regeln enthalten neu auch Vertragsstrafen, eine Schweizer Errungenschaft in diesem Bereich.

Ein Grund für diese Entwicklung der EU liegt im Brexit. Auch Grossbritannien stand auf einer Lohnklippe, kannte jedoch keine flankierenden Massnahmen. Das schuf Unmut und Verwerfungen, die mit zum Austritt führten. Die EU musste erfahren, dass fehlender Lohnschutz ein einzahlendes Mitglied zum Exit aus der Union bewegen kann.

Sefcovic und Cassis reichen sich die Hand und schauen in die Kamera
Maros Sefcovic und Ignazio Cassis im März 2023. © Keystone / Peter Schneider

Für Maros Sefcovic, der in Brüssel für die Schweiz zuständig ist, öffnete diese Entwicklung 2022 einen Raum. Als er im Frühling 2023 die Schweiz besuchte, bot er den hiesigen Gewerkschaften eine “Nicht-Regressionsklausel” an: Eine Garantie Brüssels, dass die Schweiz nicht unter ihr hohes Lohnschutzniveau zurückgehen müsse, falls sich die EU dereinst in diese Richtung bewegte.

Doch diese mündliche Zusage des EU-Funktionärs, der in Brüssel die Schweiz handhabt, erfolgte quasi im Vorbeigehen. Sefcovics Worte nun in einem Vertragsentwurf festzunageln, das ist aktuell die knifflige Aufgabe der Schweiz.

Diese Punkte beim Lohnschutz müssen zwischen der Schweiz und der EU, aber auch zwischen den Schweizer Sozialpartnern, noch geklärt werden

Anmeldefristen für Kontrollen: Die EU will diese von 8 Tagen auf 4 Tage verkürzen. Die Gewerkschaften zeigen sich dazu bereit, nutzen die bestehende Regel aber als Verhandlungspfand. Sie wollen im Gegenzug ein Entgegenkommen der Arbeitgeber.

Gesamtarbeitsverträge: Die Gewerkschaften wollen den Abdeckungsgrad von Gesamtarbeitsverträgen im Inland ausdehnen, also den Anteil der Beschäftigten, die einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt sind weiter erhöhen. Sie nutzen die EU-Verhandlung als Hebel diesen Deal im Inland.

Kautionen: Die EU kennt keine Hinterlegungen von Kautionen im Arbeitsrecht. Für die Schweiz hat sich das Instrument aber bewährt. Um es zu behalten, bedürfte es einer Ausnahmeregelung. Etwa dass nur noch Firmen Kautionen hinterlegen müssen, die einschlägig vorbestraft sind.

Spesen: Die EU sieht vor, dass bei Spesen die Regeln des Entsendelandes gelten und nicht jene des Landes, wo die Arbeit verrichtet wird. Dagegen wehrt sich die Schweiz, weil Essen und Unterkunft hier mehr kosten.  

Die EU derweil spürt den Druck ihrer eigenen Gewerkschaften. Sie wollen nun die Feinheiten des Schweizer Wurfs, etwa dass sie und die Unternehmen die Regeln gemeinsam aufsetzen und diese auch gemeinsam überwachen. Dass privatrechtliche Gesamtarbeitsverträge dabei zur allgemeinen Richtschnur werden, und nicht staatliche Gesetze. Oder auch, dass Unternehmen beim Grenzübertritt Kautionen hinterlegen müssen, die abschrecken und die Strafverfolgung erleichtern.  

Sie fordern exakt alles, was die Schweiz schon hat.

Wenn sie mit damit durchkommen, dann hat nicht die EU den Schweizer Lohnschutz gebodigt. Sondern umgekehrt.

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