Warum Schweizer Forschende den UNO-Ernährungsgipfel boykottieren
Die UNO organisiert einen Gipfel zur Frage, wie die wachsende Weltbevölkerung auch unter der Bedingung des Klimawandels ausreichend ernährt werden kann. Zwei Schweizer Agrar-Forschende geben Auskunft, warum sie den Gipfel boykottieren.
Johanna Jacobi und Stephan Rist werden im September nicht in New York sein, wenn zahlreiche Akteure unter Federführung der Uno darüber debattieren, wie der Hunger in der Welt zu besiegen ist.
Nicht, weil sie das Ziel nicht unterstützten. Aber die Vorzeichen, unter denen der Gipfel organisiert ist, sehen sie kritisch. Zusammen mit über 200 Wissenschaftlerinnen und WissenschaftlernExterner Link aus der ganzen Welt sowie Gewerkschaften, ehemaligen Uno-Sonderberichterstattern und NGOs boykottieren die beiden Schweizer Forschenden deshalb den Gipfel.
Wenn wir eine wachsende Weltbevölkerung unter den Bedingungen des Klimawandels satt machen wollen, müssen wir laut Uno unsere Ernährungssysteme ändern. Sie lädt daher am 23. September 2021 in New York zu einem Gipfel. SWI swissinfo.ch widmet dem Thema eine Serie.
Sie nehmen dafür am GegeneventExterner Link teil. Dessen Motto «Farmers, not corporations, feed the world» [Bauern, nicht Konzerne, ernähren die Welt] zeigt gut, worum es bei den Meinungsverschiedenheiten im Kern geht: Um einen Konflikt zwischen der Agroindustrie und den Kleinproduzentinnen und Kleinproduzenten, der sie unterstützenden Zivilgesellschaft und der mit beiden verbundenen agrarökologischen Wissenschaft.
Dominieren Konzerne den Gipfel?
«Die Machtverhältnisse am Gipfel sind bereits festgelegt», sagt Umweltwissenschaftlerin Johanna Jacobi, Professorin für Agrarökologische Transitionen an der ETH Zürich. «Die Familien- und Kleinbauernbetriebe – die auf weniger als 30 Prozent der globalen Landwirtschaftsfläche über die Hälfte der Nahrungsmittel produzieren – sind nicht angemessen repräsentiert.»
Die Kleinproduzenten seien einer ruinösen Konkurrenz um Land, Wasser und Marktzugänge mit Konzernen und Grossgrundbesitzerinnen ausgeliefert, die 70 Prozent der globalen Agrarfläche kontrollierten, aber lediglich bis zu 40 Prozent der Nahrungsmittel produzierten. «Und die Vertreterinnen und Vertreter genau dieser Akteure leiten den Welternährungsgipfel an», so Jacobi, die nicht glaubt, dass der Gipfel die Ernährungssysteme nachhaltiger, ökologischer oder gerechter macht.
«Eine klare Alternative aufzeigen»
Auch Stephan Rist, Professor für Humangeographie und kritische Nachhaltigkeitsforschung an der Universität Bern, nennt als Gründe für seinen Boykott ökologische und soziale Motive. Am Gipfel würden Strategien und Lösungsansätze verfolgt, welche die Grundprobleme der gegenwärtigen Ernährungssysteme nicht lösten, sondern sogar verschärften.
«Es sind vor allem die global organisierten Grossbetriebe und Konzerne, die den Hauptteil des Food Waste verursachen.»
Rist leitete in den vergangenen sechs Jahren ein internationales Forschungsprojekt zum Thema Ernährungsnachhaltigkeit. Dabei zeigte sich, dass Kleinbauern- und Familienbetriebe im Unterschied zu Monokulturen von Grossplantagen sehr nahe an den Prinzipien der Agrarökologie produzieren. «Ihr Hauptproblem ist nicht, dass sie nicht wissen, wie man ökologisch und nachhaltig produziert, sondern dass der Mehraufwand an Arbeit von den Märkten nicht fair vergütet wird», sagt Rist.
«Der agroindustrielle Fokus übersieht auch, dass es vor allem die global organisierten Grossbetriebe und Konzerne sind, die den Hauptteil des Food Waste verursachen», fügt Rist hinzu. Es sei wichtig, eine klare Alternative aufzuzeigen, nämlich die Agrarökologie als eine Praxis, eine soziale Bewegung und Wissenschaft.
Stein des Anstosses: Das WEF
Besonderen Anstoss nehmen die Forschenden an der Person Agnes Kalibata, der Leiterin des UNO-Gipfels. Diese ist Agenda Contributor für das Weltwirtschaftsforum Wef sowie langjährige Präsidentin der «Alliance for a Green Revolution in Africa» (AGRA). Dies ist eine afrikanisch geführte Institution, welche die kleinbäuerliche Landwirtschaft in Afrika in ein florierendes digital-agroindustrielles Geschäft verwandeln möchte.
«Das Agenda- und Problem-Setting des Gipfels ist eine Roadmap zur umfassenden Agroindustrialisierung, welche die legitimen Interessen der Familien- und Kleinbauern einfach ignoriert.»
Das klingt eigentlich gut. Doch Jacobi sagt: «AGRA steht wegen seiner agroindustriellen Ausrichtung schon länger in der Kritik.» Sie propagiere Monokulturen, Pestizide, Mineraldünger und Saatgut von internationalen Konzernen, was Kleinbäuerinnen und Kleinbauern in eine Abhängigkeit bringe. Eine StudieExterner Link überwiegend westlicher NGOs aus dem Jahr 2020 kam zum Schluss, die AGRA habe ihre eigenen Ziele nicht erreicht, die Initiative wirke sich sogar negativ auf kleine Lebensmittelproduzenten aus.
Agnes Kalibata ist laut Jacobi eine Expertin für die industrielle Landwirtschaft. Eine Einschätzung, die auch Stephan Rist teilt. Für ihn spielt zudem die Verbindung zum WEF, das die 1000 grössten Firmen der Welt vertritt, eine Rolle: «Als die UNO 2019 in einem Hinterzimmer-Deal eine Partnerschaft mit dem WEF einging, wurde klar, dass das Agenda- und Problem-Setting so ausfallen würde, wie es nun leider ausgefallen ist: Eine Roadmap zur umfassenden Agroindustrialisierung, welche die legitimen Interessen der Familien- und Kleinbauern einfach ignoriert.»
Das Problem zur Lösung machen
«Der UNO-Food-Summit baut auf einem Problem-Framing auf, welches jeglicher kritischen wissenschaftlichen Überprüfung spottet», so Rist. «Es wird angenommen, dass die globalen Ernährungssysteme erst dann nachhaltiger werden, wenn die agroindustrielle Nahrungsmittelproduktion noch weiter expandiert.» Negative Folgen der Agrarindustrie wie Entwaldung, Verschmutzung von Böden und Wasser, Gesundheitsschäden bei Mensch und Tier, Land-Grabbing und Spekulation mit Lebensmitteln würden ausgeblendet.
«Im agroindustriellen Ernährungssystem werden mit viel fossiler Energie, Pestiziden, kommerziellem Saatgut und Kunstdünger Lebensmittel hergestellt, die trotz der enormen volkswirtschaftlichen Schäden möglichst billig an die globale Bevölkerung geliefert werden.» Aus Sicht der nachhaltigen Ernährungssysteme sei eine solche Stossrichtung keine sinnvolle Lösungsstrategie, denn sie mache das Grundproblem der aktuellen Landwirtschaft zu deren Lösung.
Dieser Text wurde am 24.09.2021 geändert. In einer ursprünglichen Version hiess es, Frau Agnes Kalibata sei Mitglied des Wef. Richtig ist: Sie ist Agenda Contributor.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch