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Wenn unsere Identitätskrise zur Staatskrise wird

Sanija Ameti

Wie weit geht die Freiheit der Neutralität? Wann wird sie zum selbstgewählten Gefängnis? Sanija Ameti von Operation Libero über den Zustand der Schweiz.

“Wer dialektisch lebt, kommt in psychologische Schwierigkeiten.” Es scheint, als hätte Dürrenmatt in seiner berühmten Gefängnis-Rede von 1990 die jetzige Identitätskrise der Schweiz algorithmisch vorausgesagt, wenn er beschreibt, wie wir Schweizer:innen uns frei fühlen: “Freier als alle anderen Menschen, frei als Gefangene im Gefängnis ihrer Neutralität.”

Weil wir so frei sind, machen wir mit der ganzen Welt Geschäfte. Und weil wir wiederum Gefangene sind, finden wir keine Lösung mit der Europäischen Union.

Unsere Schweiz sieht sich selbst gerne als Hort der Freiheit, als Verteidigerin des humanitären Völkerrechts und Heimat internationaler Organisationen.

Im Wissen, dass unsere eigene Existenz als Kleinstaat von der internationalen Ordnung abhängt, die auf Regeln und nicht auf Macht beruht, schreiben wir die Verteidigung der internationalen Ordnung als Zweck der “Eidgenossenschaft” zuvorderst in unsere Verfassung.

Aber handeln wir auch danach? Im Februar 2022 benötigte unser Bundesrat mehrere Tage, um sich zu entscheiden, den Einmarsch Russlands zu verurteilen und noch länger, bis er Taten folgen liess.

Die indirekten Waffenlieferungen an unsere Nachbarn, welche sie brauchen, um die in unserer Verfassung beschworene internationale Ordnung zu verteidigen, verwehren wir ihnen. Stattdessen solle unsere Schweiz lieber humanitäre Hilfe leisten, schlaumeiern wir, damit unser Parlament kurz darauf das Geld für diese humanitäre Hilfe in der Ukraine ablehnen kann.

Dies soll uns aber nicht kümmern, schliesslich können wir unsere Neutralität jederzeit zum Selbstzweck erheben, um in einer Zeit aufflammender geopolitischer Konflikte opportunistisch die Augen verschliessen zu können, während die Idee der Demokratie, mit der wir uns so gerne brüsten, auf unserem Kontinent vernichtet zu werden droht.

Steckt die Schweiz in einer Imagekrise? Ex-Botschafter Martin Dahinden verneint in seinem Gastbeitrag und verweist auf Umfragewerte:

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Unsere Schweiz handelt nicht. Das Gefängnis lässt keine Handlungsfreiheit zu. Durch eine institutionelle Einbindung in den Binnenmarkt der Europäischen Union würden wir zwar wieder handlungsfähig werden. Aber das könnte unsere Wirtschaft daran hindern, sich über regulatorische Nischen und geschützte Märkte kurzfristige Vorteile zu erwirtschaften.

Weil das Prinzip “Gleiche Spiesse für Alle” Nischen ausschliesst, setzen wir doch lieber auf Machtkartelle, damit unsere (Land-)Wirtschaft sich nicht an die handels- und geldpolitischen Regeln des Binnenmarktes halten muss.

Also bedienen wir uns dem alten dialektischen Trick: Wir beschwören die Souveränität und Neutralität, sie mögen uns weiterhin ermöglichen, das Businessmodell der regulativen Nischen zu bewirtschaften.

So können wir jeglichen regulatorischen Grundsatzfragen aus dem Weg gehen, selbst dann, wenn der Untergang der Credit Suisse unsere Identität im Kern trifft. Dann flüchten wir ins Gefängnis.

Weil das Gefängnis aber nicht unserem Selbstbild entspricht, haben wir keine andere Wahl, als uns in die eigene Tasche zu lügen, bis das Gefängnis zum Disneyland wird. Und weil wir fest daran glauben, nicht im Gefängnis, sondern im Disneyland zu leben, brauchen wir keine Vision für die Zukunft.

Damit unser Disneyland der Selbstlüge nicht an der Realität zerbröckelt, beschwören wir den Mythos der Neutralität und Souveränität, bis der selbstverschuldete Schaden so enorm wird und wir das Gefängnis im eigenen Portemonnaie spüren.

Wir könnten uns den Grundsatzfragen aber auch stellen, bevor es so weit kommt, indem wir über die Identität der Schweiz in Europa abstimmen. An einer Abstimmung führt nichts vorbei, denn wenn zwei so grundverschiedene Identitätsvorstellungen aufeinanderprallen, dass ein Kompromiss im Kompromissland nicht mehr möglich ist, dann braucht es stattdessen einen Entscheid, damit wir wissen, was in der Schweiz Konsens hat.

Der Verleger Markus Somm schreibt, die Schweiz bestehe gerade daraus, dass sie kaum je zu definieren war:

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L’Identitätskrise n’existe pas

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Markus Somm, Verleger der Zeitschrift Nebelspalter, schreibt, die Schweiz bestehe gerade daraus, dass sie kaum je zu definieren war.

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Dass ein Kompromiss unmöglich ist, beweisen Bundesrat und Parlament, indem sie immer wieder kläglich an einem solchen Kompromiss scheitern.

Eine solche Blockade kann nicht durch Wahlen behoben werden, solange die Zauberformel instabil ist. Das Problem ist also strukturell: Eine solche Blockade macht aus einer Identitätskrise eine Staatskrise, die grundlegende Reformen in fast allen Bereichen blockiert.

Glücklicherweise haben wir für solche Fälle die Volksinitiative erfunden, die unser strukturelles Problem lösen und die Blockaden überwinden könnte.

Wir könnten endlich unsere Identität dort zu suchen beginnen, wo die Realität ist: In einer von geopolitischen Verschiebungen nicht verschonten Schweiz. In einer europäisch noch nie so vernetzten Schweiz. In einer Schweiz, die Teil der liberalen Demokratien in Europa ist und bereit ist, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat nach innen und aussen zu verteidigen.

Nach innen, indem wir die Vierviertel-Demokratie realisieren und nach aussen, indem wir in Kooperation mit unseren Nachbarn die Demokratien auf diesem Kontinent verteidigen.

Dafür müssten wir eine Schweiz werden, die ihren Platz auf der Welt findet. Eine Schweiz sein, die nicht nur etwas Grossartig-Gewordenes ist, sondern etwas noch Grossartiger-Werdendes.

Die Schweiz im Image-Tief

Der Beinahe-Kollaps der Traditionsbank Credit Suisse hat für ein finanzpolitisches Erdbeben gesorgt, das weit über die Schweizer Grenzen hinaus Schlagzeilen gemacht hat. Obwohl das Krisenmanagement der Regierung im Ausland überwiegend positiv aufgenommen wurde, hat die Reputation des Schweizer Finanzplatzes arg gelitten – und mit ihr das gesamte Image der Schweiz. Ein Image, um das es nicht zum Besten steht.

Bereits länger sieht sich das Land mit Kritik konfrontiert: Seit der russischen Invasion in der Ukraine ist die helvetische Neutralität international umstritten. Für Russland ist die Schweiz nicht mehr neutral, die westlichen Partner sehen das Abseitsstehen der Schweiz als opportunistisch und werfen ihr vor, der Ukraine zu schaden. Die von den Schweizer Behörden untersagte Wiederausfuhr von Kriegsgerät an das angegriffene Land mehrt Zweifel, dass die Schweiz überhaupt noch ein zuverlässiger Verbündeter ist. Die Kritik schliesst auch die Sanktionen gegenüber russischen Oligarchen ein, in den Augen vieler internationaler Beobachter:innen geht die Schweiz nicht weit genug.

Neutralität, Bankenplatz, Sanktionspolitik: Die Fragen betreffen nichts weniger als die Identität des Landes. Wir haben verschiedene Schweizer Persönlichkeiten angefragt, wie sie das Renommee der Schweiz in der Welt beurteilen und was jetzt nötig wäre.

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene der Autorin und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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