Eine harte Realität in der Demokratie Schweiz: In vielen Kantonen müssen normale Bürgerinnen und Bürger gegen ihren Willen ein Amt übernehmen, sei es in der Gemeindeexekutive oder in der Schulaufsicht. Es finden sich nämlich nicht genügend Freiwillige. Im Kanton Uri hat das Stimmvolk jüngst einer Gesetzesrevision zugestimmt, die Amtsverweigerer mit 5000 Franken Busse bestraft.
Johanna Tschumi ist 2008 in die Exekutive der Gemeinde Bauen im Kanton Uri gewählt worden, ohne dass sie je für das Amt kandidiert hätte. Aber ihr fehlten aus gesundheitlichen und beruflichen Gründen die Kapazitäten, das Amt auch auszuüben. Also stellte sie mit Arztzeugnis ein Amtsentlassungsgesuch – vergeblich.
Tschumi sah nur einen Ausweg: Im sechs Kilometer entfernten Nachbardorf mietete sie ein Zimmer, meldete sich dort offiziell bei den Behörden an und übernachtete während drei Monaten nur noch an den Wochenenden in Bauen. Zwei weitere unfreiwillig Gewählte aus Bauen taten es ihr gleich, was dazu führte, dass der Gemeinderat nicht mehr beschlussfähig war.
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Was wie eine surreale Anekdote tönt, ist in vielen Deutschschweizer Kantonen bitterer Alltag. Die Kantone Zürich, Nidwalden, Solothurn, Graubünden, Wallis, Uri und Appenzell-Innerrhoden kennen noch den so genannten Amtszwang.
Milizsystem in der Krise
Das politische System der Schweiz gründet auf dem Milizsystem: Bürgerinnen und Bürger übernehmen nebenamtlich öffentliche Aufgaben. Nicht nur die Parlamentarier auf Kantons- und Gemeindeebene üben ihr Mandat im Nebenamt aus, sogar die Mitglieder des schweizerischen Parlaments sind in der grossen Mehrheit «Teilzeit-Parlamentarier» neben einem Hauptberuf.
Dieses so genannte Milizsystem ist einer der Hauptpfeiler der direkten Demokratie, denn Bürgerinnen und Bürger sollen nicht nur mitbestimmen, sondern auch aktiv mithelfen. Und das besonders auf der Ebene, die sie persönlich am stärksten betrifft: Die Gemeinde – Paradeplatz der direkten Demokratie.
«Das Milizsystem stammt aus dem Ancien Régime und war eine Form der Verbrüderung zwischen Herrschenden und der Unterschicht», erklärte der Politologe Claude Longchamp in einem Interview mit swissinfo.ch. «Interessanterweise hat das Milizsystem die Demokratisierung überlebt.»
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Das Milizsystem hat zwar überlebt, befindet sich aber – besonders auf Gemeindeebene – in einer Krise: Die Arbeitslast von Ämtern ist gross, der Lohn mager. «Vor allem in mittelgrossen Gemeinden mit 5000 bis 10’000 Einwohner stellen sich nicht mehr genügend Leute für politische Ämter zur Verfügung», so Longchamp. Das habe in erster Linie mit dem modernen Lebensalltag zu tun, in dem Wohn- Lebens- und Arbeitsraum der Menschen auseinanderklafften. Man sei mobiler und fühle sich mit dem Wohnort nicht mehr so verbunden.
Auch der ehemalige Bundesrat Adolf Ogi erzählte in einem Interview mit swissinfo.ch, dass es in seiner Heimatgemeinde Kandersteg im Berner Oberland inzwischen schwierig sei, freiwillige Gemeinderäte zu finden. Das sei in seiner Kindheit in den 1950er-Jahren anders gewesen: «In Kandersteg gab es damals keine Parteien, aber es war politische Pflicht, dass man sich der Gemeinde, der Öffentlichkeit und dem Ort zur Verfügung stellt.»
Amt als Bürgerpflicht
Wegen der Krise des Milizsystems halten viele Gemeinden am Amtszwang fest, auch wenn dieser als «überholt» kritisiert wird. So auch der Kanton Uri: Am 5. Juni hat das Stimmvolk einer Gesetzesrevision zugestimmt, die eine Amtsübernahme explizit als Bürgerpflicht definiert. Das revidierte Gesetz sanktioniert eine Verweigerung neu mit einer Busse von 5000 Franken.
Immerhin sieht das neue Gesetz im Unterschied zu früher einige Erleichterungen vor: Neu hört die Pflicht zur Annahme des Amts mit dem 65. Altersjahr auf. Zudem kann das Amt aus «wichtigen Gründen» abgelehnt werden – zum Beispiel bei gesundheitlichen Problemen oder zwingenden beruflichen Gründen. Hätte das neue Gesetz bereits 2008 existiert, wäre Johanna Tschumi wohl auch ohne Umzug dem Amt entkommen.
Tschumi ist letztlich doch noch Gemeinderätin von Bauen geworden – wenn auch freiwillig nach ihrer Pensionierung. «Es ist für das Funktionieren der Gemeinde unabdingbar, dass alle etwas machen», sagt sie. «Aber nicht gegen den Willen der Personen.» Man müsse andere Wege finden, beispielsweise Gemeinden fusionieren oder die Leute anständig bezahlen, dann würde man genügend Freiwillige finden. «In der heutigen Zeit mit der stressigen Berufswelt und den stagnierenden Einkommen können sich viele ein solches Nebenamt gar nicht leisten», erklärt sie.
Zurzeit ist in dem 150-Seelendorf Bauen wieder ein Posten frei. Wenn sich kein Freiwilliger findet, werden die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an der Gemeindeversammlung im Herbst jemanden aus ihren Reihen bestimmen müssen. Dem Pechvogel bleiben nur drei Möglichkeiten: Das Amt annehmen, 5000 Franken Busse bezahlen oder Umzugskisten packen und das Weite suchen.
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