Der Enzian, die «gelbe Fee» des Schweizer Juras

Uhren, Freiberger Pferde, Vacherin Mont-d'or: Der Jura ist reich an Produkten, die sowohl in der Schweiz als auch international einen guten Ruf geniessen. Zu diesen regionalen Schätzen gehört auch eine Pflanze: Der gelbe Enzian hat es geschafft, sich einen festen Platz in der Welt der Aperitifs zu erobern – allerdings unter französischer Flagge.
Der Gelbe Enzian ist für den Jura das, was das Edelweiss für die Alpen ist: eine Symbolpflanze. Er wächst in einer Höhe von etwa 1000 Metern, vorzugsweise auf sehr kalkhaltigen Böden, was das Juramassiv zu einem besonders geeigneten Standort macht.
Es ist schwer, sie bei einem Spaziergang in den Bergen des Jura zu übersehen. Diese Pflanze mit ihren gelben Blüten beeindruckt durch ihre Grösse, sie kann bis zu anderthalb Meter in die Höhe wachsen. Und auch die Tatsache, dass sie 50 Jahre alt werden kann und zehn Jahre braucht, bevor sie blüht, ist bemerkenswert.
Harte Erntearbeit
Das Interessanteste befindet sich jedoch unter der Erde. Die Wurzeln des Gelben Enzians (Gentiana lutea) werden nämlich seit der Antike wegen ihrer medizinischen Eigenschaften genutzt.
Diese sollen insbesondere verdauungsfördernd, wurmabtreibend, fiebersenkend, antiseptisch oder blutreinigend sein und gegen Übelkeit helfen. Kurz gesagt: eine echte Apotheke.
In jüngerer Zeit begann man auch, die Wurzeln zur Gewinnung von Alkohol zu verwenden. Laut dem Kulinarischen Erbe der SchweizExterner Link wird die Destillation von Enzian in deutschen Dokumenten aus dem Jahr 1620 erwähnt. In der Schweiz wurde diese Verfahrensweise erstmals 1796 in Neuchâtel belegt.

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Aber den Enzianrausch muss man sich verdienen. Die Wurzeln – die man nur von sieben bis zehn Jahre alten Pflanzen erntet – können bis zu anderthalb Meter lang werden, einen Durchmesser von 10 Zentimetern haben und 5 bis 7 Kilogramm wiegen.
Unnötig zu erwähnen, dass das Ausgraben der Wurzeln mit einem Werkzeug namens Reisszahn so anstrengend ist, dass man danach den Enzianschnaps nicht nur will, sondern braucht.
Eine Fee, die man liebt oder hasst
Für die Herstellung von 5 bis 7 Litern Enzianschnaps werden 100 Kilogramm Wurzeln benötigt. Damit ist die Ausbeute nur halb so gross wie bei der Destillation von Früchten.
Die Wurzeln können ausserdem nicht frei geerntet werden. Einige Kantone schützen den Gelben Enzian oder schränken das Sammeln ein.

Heutzutage ist das Angebot knapp, da weniger als ein Dutzend Brennereien im Jura und in den Voralpen noch Schweizer Enzianschnaps herstellen. Diese Faktoren führen dazu, dass Enzianschnaps teurer ist als die meisten Obstbrände.
Sicherlich denken Sie nun, all diese Anstrengungen und hohen Preise müssten zwangsläufig einen wahrhaftigen Nektar hervorbringen. Nun, das ist nicht unbedingt der Fall.
Enzianschnaps schmeckt bitter und mehr oder weniger erdig, je nachdem, wie intensiv die Wurzeln gereinigt wurden. Man mag ihn oder man hasst ihn, aber er lässt selten gleichgültig.
«Dieser Schnaps wird wegen seines sehr bitteren Geschmacks und seines von manchen als ekelerregend empfundenen Geruchs kritisiert», stellt das Kulinarische Erbe der Schweiz fest.
Er sei eines der wenigen Lebensmittel, dessen blosse Erwähnung bei manchen Menschen ein angewidertes Grinsen hervorrufe. «Und doch hat die ‹gelbe Fee› – so genannt nach der Farbe der Enzianblüten aber auch in Anlehnung an die ‹grüne Fee›, den Absinth – immer noch viele begeisterte Liebhaber».
Französisch-schweizerische Kontroverse
Die Wurzeln des gelben Enzians werden nicht nur zur Herstellung von diesem einen Schnaps verwendet, sondern sind auch Bestandteil vieler anderer alkoholischer Getränke.
Das bekannteste unter ihnen ist sicherlich der Suze, ein Aperitif, dessen ikonische Flasche sogar Pablo Picasso auf einem Gemälde verewigt hat.
In Frankreich besteht kein Zweifel daran, dass dieses beliebte Getränk, das heute zum Pernod-Ricard-Konzern gehört, in der Nähe von Paris von einem gewissen Fernand Moureaux entwickelt wurde, der die Marke 1889 eintragen liess.
Der Name Suze soll von Suzanne stammen, der Schwägerin des Erfinders, die dieses bernsteinfarbene Getränk besonders schätzte.

In der Schweiz geht die Geschichte anders. Das berühmte Getränk soll von Hans Kappeler, einem Kräuterkundigen aus dem Dorf Sonvilier im Berner Jura, entwickelt worden sein.
Er soll es zunächst unter dem Namen «Or des Alpes» auf Bauernhöfen in der Region verkauft haben. Der moderne Name soll von der Suze stammen, einem Fluss, der in der Nähe von Kappelers Haus fliesst und in den Bielersee mündet.
Die beiden Geschichten könnten jedoch miteinander verknüpft sein. Der Schweizer Kräuterkundler war bankrott und gesundheitlich angeschlagen, sodass er gezwungen war, seine Formel an einen französischen Händler zu verkaufen… einen gewissen Fernand Moureaux.
Im Schweizer Jura wird der gelbe Enzian nicht nur zur Herstellung von Alkohol verwendet. Er ist auch ein begehrtes Material für eine andere wichtige Produktion der Region: Uhren.
Enzianholz wird traditionell zum Polieren von Uhrenteilen verwendet. Seine einzigartige, dichte und gleichzeitig sehr feine Struktur ermöglicht es, Mikrokratzer zu entfernen und den Teilen einen unvergleichlichen Glanz zu verleihen, ohne die Oberfläche der bearbeiteten Teile zu beschädigen.
Heute wird diese traditionelle Methode des Polierens nur noch in der Luxusuhrenindustrie verwendet. Diese französischsprachige ReportageExterner Link für die Manufaktur Blancpain gibt einen Einblick in den Herstellungsprozess von Polierwerkzeugen aus Enzianholz.
Übertragung aus dem Französischen mit Hilfe von Deepl: Janine Gloor

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