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Schweizer Unruhe erobert die Berlinale

Der Regisseur Cyril Schäublin mit dem Preis
Der Regisseur Cyril Schäublin und sein Bär. Keystone / Clemens Bilan

An der Berlinale konkurrierten dieses Jahr vier Filme um Preise. In der experimentellen Sektion "Encounters" wurde Cyril Schäublin für seinen ungewöhnlichen Historienfilm „Unrueh“ mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnet.

„Man müsste alle Institutionen, alle Staaten, alle Legislativen zerstören, ausser die Schweiz.“ Diesen Gedanken des russischen Revolutionärs und Anarchisten Mikhail Bakunin (1814-1876), der in Bern begraben ist, zitiert Cyril Schäublin im persönlichen Gespräch durchaus mit einem gewissen Stolz in der Stimme, wenn er gefragt wird, was er mit seinem Film für ein Bild der Schweiz nach aussen tragen möchte.

Bakunin fand, dass die Schweiz mit ihrem föderalistischen System und ihrer Dezentralisierung im Vergleich zu den Machtstaaten des 19. Jahrhunderts eigentlich ein anarchistischer Staat sei. Diese einstige Energie beschwört der Regisseur in „Unrueh“ (dt. Unruhe) herauf. 

„Unrueh“ ist in vielerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Werk. Schäublin, der selbst aus einer Familie von Uhrenmacher:innen aus dem Juragebiet stammt, verbindet in seinem Film die frühe Geschichte der Uhrenindustrie mit der Rolle, die die Schweiz für die Anarchistenbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gespielt hat.

Schäublin wagt sowohl den Blick von innen als auch von aussen, indem er die real existierte Figur des russischen Kartografen und Anarchisten Pjotr Kropotkin, der in seinen Schriften von seinen Erfahrungen in der Schweiz berichtet, als Inspirationsquelle nutzt. 

Der Film ist ein gelungenes impressionistisches Zustandsbild, wie Fabrik- und Büroangestellte in der frühen Industrialisierung ihren Alltag verbrachten. Er formuliert allgemeingültige Gedanken zu unseren Gesellschaftsformen und dem verantwortungsbewussten Umgang mit Technologie auf und sinniert über die Bedeutung von Zeit. 

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Filme mit experimentellerem Anspruch

Über seinen ideellen Gehalt hinaus zeichnet sich „Unrueh“ durch eine formale Gestaltung aus, die geradezu Neuartiges schafft. Die Bilder sind zum Teil wie Panoramen angelegt, so dass die Menschen darin wie Staffage erscheinen. Die strenge, unterkühlte Ästhetik, die Schäublin und sein Kameramann Silvan Hillmann bereits in ihrem Debüt „Dene wos guet geit“ entwickelt haben, führen sie hier wiederum meisterhaft fort.

„Unrueh“ wurde in der Sektion „Encounters“ mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet – eine Plattform für Filme mit einem etwas experimentelleren Anspruch. Das war der bedeutendste Preis, der dieses Jahr an einen Schweizer Film ging.

Auch das zweite Werk, das in der „Encounters“-Sektion mit dem Spezialpreis der Jury prämiert wurde, fällt durch eine sorgfältig erarbeitete, vielleicht stellenweise fast zu manierierte Form auf: Der Dokumentarfilm „A vendredi, Robinson“ ist der erste Langfilm der iranischen Regisseurin Mitra Farahani.

Sie hat sich vorgenommen, eine Begegnung zwischen zwei ihrer künstlerischen Idole und Vorbilder zu forcieren und daher einen E-Mail-Austausch zwischen dem iranischen Filmemacher Ebrahim Golestan und seinem Schweizer Kollegen Jean-Luc Godard herzustellen.

Mitra Farahani
Mitra Farahani Keystone / Ronny Hartmann

Ungebrochener Nimbus Jean-Luc Godards

Zwei begleitende Umstände sind an diesem Film interessant. Zum einen zeugt er von der ungetrübten Verehrung, die Godard weiterhin entgegengebracht wird. Er kann zweifelsohne als der bekannteste Schweizer Regisseur aller Zeiten bezeichnet werden – auch wenn er nicht selten als Franzose eingestuft wird, da er den Grossteil seiner Karriere in Frankreich gemacht hat.

Zwei Filme aus Godards eigener Hand waren im Rahmen des Festivals im retrospektiven Teil zu sehen, nämlich „Sauve qui peut (la vie)“ von 1980, in dem die junge Isabelle Huppert auftritt, und sein dokumentarischer Essay „Notre Musique“ von 2004.

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Zum anderen lässt sich an Farahanis Film ablesen, wie sehr ein wesentlicher Teil der Schweizer Produktionen mittlerweile von internationalen Geldgebern abhängig ist. „A vendredi, Robinson“ ist nämlich eine Co-Produktion zwischen Frankreich, dem Iran, dem Libanon und der Schweiz. Hier ist der Bezug zur Schweiz eindeutig gegeben, aber das muss nicht immer so sein, damit sich die Schweiz finanziell an einem Film beteiligt. Filme kosten in der Regel viel Geld. Selten kommt die Finanzierung aus einer Quelle, meist bedarf es des Zusammenwirkens mehrerer Träger.

Internationale Co-Produktionen

Um Schweizer Filmen zu ermöglichen, im Ausland Kooperationspartner zu finden, muss die Schweiz ihrerseits sich auch an ausländischen Filmen beteiligen. Dies hat den Vorteil, dass die Schweizer Filmindustrie international auf verschiedenen Ebenen sichtbar bleibt. Auch dürfte der kreative und professionelle Austausch dadurch gefördert werden.

Zwei solche ausländische Produktionen, an denen die Schweiz als Geldgeber beteiligt war, waren am Festival zu sehen. Die erste ist der experimentelle Dokumentarfilm „Jet Lag“ (aus der Sektion Forum) der chinesischen Regisseurin Zheng Lu Xinyuan, die ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie mit der Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte verbindet.

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Die zweite ist ein ziemlich aufwendiger Spielfilm der italienischen Regisseurin Chiara Bellosi: „Calcinculo“ (aus der Sektion Panorama), eine intime Coming-of-age-Geschichte, ist bereits der zweite Film Bellosis, der in Co-Produktion mit der Schweiz entstanden ist.

Ein vielseitiges Bild der Schweiz

Auch die beiden Schweizer Filme im Hauptwettbewerb des Festivals sind internationale Co-Produktionen. Ursula Meiers dicht inszenierte und intelligente Tragikomödie „La Ligne“, in der es um das zerrüttete Verhältnis zwischen einer Mutter und ihren drei Töchtern geht, wurde mit Geld aus der Schweiz, Belgien und Frankreich finanziert.

Abgesehen von der Hauptdarstellerin und Co-Autorin Stéphanie Blanchoud verpflichtete Meier eine ganz Reihe französischer Schauspieler:innen, allen voran Valeria Bruni Tedeschi in der Rolle der selbstgerechten Mutter.

Meier gelang bereits mit ihrem ersten Spielfilm „Home“ (2008), in dem Altstar Isabelle Huppert mitspielte, der internationale Durchbruch. Im Gespräch sagt sie, dass sie sich aber kaum vorstellen könne, ihre Filme woanders als in der Schweiz zu drehen, und dies trotz ihres engen Bezugs zu Belgien und Frankreich – oder vielmehr gerade wegen ihm: Meier meint, sie benötige diesen etwas verschobenen Blick von aussen auf, um sich mit den Realitäten der Schweiz auseinanderzusetzen.

Bei „La Ligne“ habe sie der Ort (im Wallis), an dem sie gedreht hat, sehr beeinflusst. Unterschiedliche natürliche Räume – Berge, Fluss und Flachland – ebenso wie soziale Räume träfen in enger Abfolge aufeinander, was zwangsläufig einen Einfluss auf das gesellschaftliche Miteinander habe. Dies finde man in anderen Ländern nur selten so konzentriert vor.

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Für Michael Kochs visuell atemberaubendes Drama „Drii Winter“ (eine Co-Produktion zwischen der Schweiz und Deutschland) spielt der Ort, das Urner Hochland, ebenfalls eine wesentliche Rolle. Es sei ihm bewusst gewesen, meinte Koch im persönlichen Gespräch, dass er sich auf einem schmalen Grat bewegte und riskierte, eine Schweizer Alpenromantik zu vermitteln, die er aber unbedingt vermeiden wollte.

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Koch ging es darum, die Menschen zu beobachten, und ihre Naturverbundenheit und Gelassenheit gegenüber den schwierigen Dingen des Lebens hatten ihn beeindruckt. Seine Erfahrungen flossen in die leise und doch äusserst intensive Liebesgeschichte ein, die er mit Laien in dieser abgeschiedenen, gleichzeitig unwirtlichen und paradiesischen Welt inszenierte.

An der Berlinale, der es pandemiebedingt dieses Jahr an sonstigen Stars und Sternchen internationalen Ausmasses gefehlt hat, waren dann stattdessen Schweizer Bergbauern zu Gast. Während „La Ligne“ leer ausging, erhielt „Drii Winter“ von der Jury eine Lobende Erwähnung. 

Die Schweizer Titel im diesjährigen Programm der Berlinale zeigen, wie vielseitig die Schweizer Filmproduktion in Formfindung wie Gehalt ist. In ihr spiegelt sich auch die multikulturelle Prägung und soziale Vielschichtigkeit der Schweiz wider – wofür die Schweizer Schauspielerin Souheila Yacoub, mit tunesischem Vater und belgischer Mutter, die dieses Jahr an der Berlinale als eines der European Shooting Stars präsentiert wurde, ein weiteres Beispiel ist. Sie folgt auf Kollegen wie Joel Basman, Carla Juri oder Luna Wedler, die ebenfalls international Karriere machen. 

Souheila Yacoub
Souheila Yacoub Keystone / Sascha Steinbach

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