«Ich glaube nicht, dass ich von Poesie leben kann»
Im Alter von 12 Jahren entdeckte Angelia Maria Schwaller aus dem verschlafenen Ueberstorf im Kanton Freiburg das Internet. Sie navigierte in Foren auf der Suche nach Gleichgesinnten, um von ihnen zu lernen und Ideen auszutauschen. Ihre Passion – Poesie.
«Das war sehr wichtig für mich. Man kriegt Rückmeldungen und kann die Gedichte überarbeiten. Ich habe auch viel Spezialwissen über die Struktur eines Gedichts erworben. All das habe ich aus dem Internet erfahren und nicht in der Schule.»
Schwaller sieht eher aus wie eine Tänzerin als wie eine Poetin. So wie eine Tänzerin die grossen physischen Anstrengungen hinter einem feingliedrigen Körper verbirgt, so verbirgt die junge Autorin die Tiefe ihrer Leidenschaft unter einem ruhigen, selbstsicheren Äusseren.
Ihr Stil wurde als «natürlich und unprätentiös, unglaublich reif und frei von Kitsch» beschrieben.
Die 25-Jährige gewann verschiedene Literaturwettbewerbe oder kam in die engere Wahl. Die Veröffentlichung ihres ersten Gedichtbands im Mai 2012 machte sie bei einem breiteren Publikum bekannt. Im letzten Jahr hielt sie in der Schweiz zwanzig Lesungen.
Das Preisgeld aus einem lokalen Kulturwettbewerb verwendete die junge Autorin für die Publikation ihrer Mundartpoesie mit dem Titel «Dachbettzyt» (Bettdecken-Zeit). Der Titel ist für Leser, die den Schweizer Dialekt nicht verstehen, erklärungsbedürftig. Anders als die meisten Deutschschweizer Autorinnen und Autoren schreibt Schwaller häufiger in ihrer Mundart als hochdeutsch.
«Der Titel ist mehrdeutig. ‹Dachbett› ist ein typisches Wort aus dem Sensler-Deutsch (schweizerdeutscher Dialekt, der im Sense-Bezirk gesprochen wird). Es bedeutet ‹Bettdecke› und impliziert Wärme und Geborgenheit. Aber auch Leute aus andern Regionen können sich unter dem zusammengesetzten Wort Dach-Bett etwas vorstellen, Assoziationen herstellen.»
Stimmungen
Die meisten Gedichte sind in der ersten Person geschrieben. «Es sind Liebesgedichte im weitesten Sinn des Wortes, die aber viel weniger autobiografisch sind, als die meisten Leute denken», sagt Schwaller.
«Schreiben ist für mich ein Prozess, der Monate dauert. Ich mache nicht einfach nur Notizen, die ich in ein fertiges Gedicht umwandle. Die vorläufigen Notizen sind autobiografisch und hängen von meiner Stimmung ab, aber dann bringe ich daraus etwas anderes hervor.»
Kleine Vagabunden
Die Dichterin ist in einer naturnahen Landschaft an der Grenze zwischen den Kantonen Bern und Freiburg aufgewachsen im pittoresken Ueberstorf, einem 2000-Selendorf, in dem jeder jeden kennt.
Im Alter von zehn Jahren begann sie Shakespeare zu lesen. Aber sie hielt sich auch so oft wie möglich draussen auf, spielte Fussball und Unihockey. «Man liess uns Kindern viel Zeit und Raum herumzustreunen und die Umwelt zu entdecken. Mein Bruder und ich spielten oft mit Nachbarkindern im nahegelegen Wald.»
Die Familie ihrer Mutter lebt seit Generationen im dem Dorf. «Tradition war sehr wichtig in meiner Familie. Meine Eltern sind religiös und der katholische Glaube spielte in meiner Erziehung eine wichtige Rolle.» Wie viele andere Schweizer ist Schwaller Mitglied der Kirche, aber nicht mehr praktizierende Katholikin.
Derzeit studiert sie Deutsch und Philosophie an der Universität Bern und arbeitet teilzeitlich in einem kleinen Verlag. Sie ist sich bewusst, dass die Poesie für sie wahrscheinlich kein Broterwerb sein wird.
«Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mit der Poesie meine Rechnungen bezahlen kann. Davon werde ich nie leben können, und es stimmt für mich.
Aber ich finde es schade, dass die Literatur in der Schweiz so wenig Anerkennung hat. Mundartdichterin zu sein, ist mühevoll, und auf dem deutschen Markt einen Durchbruch zu erzielen, ist sehr schwierig. Es gibt diesen Eindruck, dass die Qualität nicht gut genug ist.»
i bü troches u auts broot
lige yygschlosse i dyr hann
chùme vertrückt
va dier
nay
we aus verbyy isch
schmiizeschù mier
verbroosmet
ufe stiibode
zùm fraas vor
verströit kyen i
d ritzen
ay ù gange
verlore
Zerbröselt (Inoffizielle Übersetzung ins Hochdeutsche)
Ich bin trockenes und altes Brot
Liege eingeschlossen in deiner Hand
Werde zerdrückt
von dir
Nachher,
wenn alles vorbei ist
Schmeissest Du mich
Zerbröselt
auf den Steinboden
zum Frass vor
zerstreut falle ich in
die Ritzen hinunter und gehe verloren
Die wahre Stimme
Anfänglich schrieb Angelia Maria Schwaller nur Hochdeutsch und in Zukunft könnte sie zu dieser Sprache zurückkehren. «Die Lektüre von Hubert Schallers Gedichtsammlung hatte mich motiviert, in meinem eigenen Dialekt zu schreiben.»
Die Bewegung «Spoken Word» (gesprochenes Wort), die in den 1980er-Jahren in den USA entstand, hat auch in der Schweiz einen Trend zur Dialektdichtung ausgelöst. «Beim Dialekt liegt der Fokus auf der mündlichen Ausdrucksweise. In der Schule lernt man in der Schweiz Hochdeutsch schreiben; aber heute drücken sich immer mehr Leute auch schriftlich in Mundart aus.»
Die junge Autorin gehört zu einem kleinen Kreis von Schweizer Mundartdichtern und hofft, ihre kreative Karriere fortsetzen zu können. «Die Poesie wird mich ganz bestimmt während einer sehr langen Zeit begleiten.»
Die Schweiz hat vier Landessprachen. Rund 64% der Bevölkerung sprechen Deutsch, rund 20% Französisch, 7% Italienisch. Rätoromanisch sprechen weniger als 1% der Bevölkerung.
In der deutschsprachigen Schweiz gibt es zahlreiche alemannische Dialekte. Die meisten Dialekte werden in allen Sprachregionen der Deutschschweiz problemlos verstanden.
Zu den linguistischen Besonderheiten der Deutschschweiz gehört auch, dass sich die Leute mündlich im Dialekt ausdrücken, aber für die schriftliche Kommunikation Hochdeutsch benützen.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch