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Mattmark: Dunkle Seite der Baugeschichte

Bergungsarbeiten an der Unglücksstelle nach dem Niedergang der Eislawine, August 1965. Keystone Archive

Am späten Nachmittag des 30. August 1965 verschütten im Wallis 2 Millionen Kubikmeter Eis und Geröll 93 Arbeiter. 88 von ihnen fanden den Tod.

Die Tragödie von Mattmark erschütterte damals nicht nur die Schweiz. 56 der Toten waren italienische Staatsangehörige.

Die Baustelle des Mattmark-Staudamms im Walliser Saastal, 1965. Zumeist italienische Gastarbeiter bauen hier den neusten Schweizer Staudamm. Ihr Barackendorf liegt in nächster Nähe der Baustelle. Genau im Abbruchgebiet des Allalin-Gletschers.

«Es war heiss, vom Gletscher über uns lösten sich mehrmals Eisblöcke, die krachend hinter der Barackensiedlung niederfielen», berichtet Augenzeuge Angelo Bressan, damals 17, in einem Buch über die Tragödie.

Er erinnert sich noch genau, wie sein Kollege Beppe sagte: «Wenn der Gletscher kommt, sind wir alle tot.» Befürchtungen, die von der Bauleitung und Bauherrschaft jedoch ignoriert werden.

Tragödie zum Schichtwechsel

Am 30. August schliesslich geschieht das Unfassbare: Die Zunge des Gletschers löst sich und donnert direkt auf das Barackendorf hinunter. Die Arbeiter haben keine Chance: 88 Männer sterben, nur gerade fünf Verschüttete überleben das Unglück.

Einer von ihnen ist Bressans Kollege Beppe. Seine Angst war begründet und hat ihm das Leben gerettet: Während der Arbeit habe Beppe immer wieder mit einem Auge auf den «Drachen» geschielt, schildert der damalige Baggerführer Bressan.

Die Bergung der Leichen im bis zu 50 Meter hohen Eis gestaltete sich enorm schwierig. «Die Krankenwagen waren umsonst gekommen», erzählt Gianni da Deppo, der als Fachmann für Sondierbohrungen auf der Baustelle arbeitete, im gleichen Buch.

Er war als einer der ersten zum Schichtwechsel an der Unglücksstelle angekommen. «Ich wusste, wir würden kaum Lebende bergen.» Erst am 19. Dezember wurde der letzte Tote gefunden. «Er sass auf einem Förderband, seine Schuhe fein säuberlich neben sich, um ihn herum türmte sich das Eis», erinnert sich da Deppo.

Grösste Katastrophe der Schweizer Baugeschichte

Die erschütternden Bilder des völlig zerstörten Barackenlagers gingen um die Welt. Niemand verstand, warum die Siedlung ausgerechnet in der Falllinie des Gletschers gebaut worden war. Dies hauptsächlich, weil der Gletscher für seine Unberechenbarkeit bekannt war.

«Es ist eine der grössten Katastrophen in der schweizerischen Baugeschichte», sagt Rita Schiavi, Geschäftsleitungsmitglied der Gewerkschaft Unia, welche das Buch «Mattmark nie vergessen» zum 40-jährigen Gedenken herausgegeben hat.

Nach dem Unglück regte sich Widerstand in Italien, das die meisten Toten zu beklagen hatte. Die 88 Opfer seien nicht nur auf eine Naturkatastrophe zurückzuführen, sondern auch auf mangelnde Sicherheitsvorkehrungen.

Nur Freisprüche

Nach sieben Jahren erst mussten sich 17 Angeklagte, Direktoren und Ingenieure sowie zwei Beamte der Schweizerischen Unfall-Versicherung (SUVA), wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht verantworten.

Sie wurden alle freigesprochen. Die Katastrophe sei nicht vorhersehbar gewesen, hiess es.

«Und der Clou war noch, dass die Gerichtskosten den Familien der Opfer auferlegt wurden», betont Schiavi. «Das hat in Italien grosse Empörung ausgelöst.» Schliesslich hat dann der italienische Staat diese Kosten übernommen. «Das war wirklich ein Skandal», sagt Schiavi.

Mattmark sei somit in einer aufgeheizten Zeit zum Symbol der Geringschätzung der ausländischen Gastarbeiter geworden. «Es war gleichzeitig die Zeit der Schwarzenbach-Initiativen.» Diese forderten eine Beschränkung des Ausländeranteils in der Schweiz auf 10 Prozent.

Sicherheit immer wieder ein Thema

Die Unia nimmt nun das traurige Jubiläum zum Anlass, die Wichtigkeit der ausländischen Arbeiter in der Schweizer Baugeschichte hervorzuheben. Es brauche noch viele weitere Bücher dieser Art, hofft Schiavi. «Die Geschichte der Migration in der Schweiz ist eigentlich sehr wenig erforscht.»

Zudem will die Gewerkschaft darauf hinweisen, dass die Lehren aus Mattmark gezogen wurden, die Sicherheit auf Schweizer Grossbaustellen jedoch immer wieder zu beanstanden sei.

«Es hat zwar grosse Verbesserungen gegeben, aber man muss immer wieder dafür kämpfen.»

In den 40 Jahren seit Mattmark seien einige Fortschritte in Bezug auf die Arbeitssicherheit erreicht worden, so Schiavi. «Allerdings hätte es schon bei Mattmark viel gebracht, die Leute einzubeziehen, ernst zu nehmen. Das ist auch heute zum Teil noch mangelhaft.»

swissinfo, Christian Raaflaub

30.8.1965: Die Zunge des Allalin-Gletschers begräbt das Barackendorf der Mattmarkstausee-Baustelle.
88 Arbeiter sterben bei dem Unglück.
Nur 5 Arbeiter überleben.
17 Personen werden der fahrlässigen Tötung angeklagt.
Alle werden freigesprochen.

Zum 40-jährigen Gedenken an die Katastrophe von Mattmark hat die Gewerkschaft Unia ein Buch in drei Sprachen herausgegeben.

Darin kommen Augenzeugen zu Wort. Ausserdem will die Gewerkschaft die Wichtigkeit der Gastarbeiter in der Schweiz betonen und auf das Thema «Sicherheit am Arbeitsplatz» hinweisen.

Italienisch: «Non dimentichiamo Mattmark».
Deutsch: «Mattmark nicht vergessen».
Französisch: «Ne jamais oublier Mattmark».

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