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«Otello»: In den Wahnsinn getrieben

Der Chor in einer Szene aus Otello. Keystone

Ruggero Raimondi, der Star des Abends, hat kurzfristig absagen müssen. Dennoch ist die Neuproduktion von Giuseppe Verdis «Otello» am Opernhaus Zürich szenisch und musikalisch eine Sensation.

Raimondi liegt am Premierentag mit hohem Fieber im Bett. Ein Ersatz trifft zwar einige Stunden vor der Vorstellung in Zürich ein, kann die Rolle des Jago in der ihm unbekannten Inszenierung aber nicht spielen. In die Lücke springt, quasi als zweiter Jago, «Otello»-Regisseur Sven-Eric Bechtolf, bekannt von Auftritten am Schauspielhaus Zürich.

Er, der Schauspielstar, spielt den vielleicht besten Jago, den eine Opernbühne je gesehen hat. Aber auch Alberto Mastromarino, der junge Ersatz aus Italien, bleibt seiner Rolle, links vom Bühnenrand aus singend, nichts schuldig. Ihm ist das Schicksal des Einspringer zu wünschen, der entdeckt wird, weil er kurzfristig einen berühmten Kollegen vertritt.

Stummfilm-Expressionismus

Die Sensation ist aber der den Jago auf der Bühne spielende Regisseur, der sich die Rolle unbeabsichtigt selber auf den Leib geschrieben hat. Wie ein expressionistischer Stummfilm-Schauspieler schleicht er, mit schlaksigen Bewegungen, durch die Szene. Er ist fast dauernd präsent, hält die Fäden von Anfang an fest in der Hand, und auch der letzte Auftritt gehört ihm.

Sein Opfer ist ebenfalls eine Klasse für sich. José Cura, der junge argentinische Tenor, saugt die Titelrolle förmlich in sich ein. Er verfällt, mit unerbittlicher Konsequenz, dem Wahnsinn. Er zittert, er sabbert, er verliert die Kontrolle. Er ist völlig in der Hand von Jago, der ihn am Schluss des dritten Aktes wie ein erlegtes Tier mit dem Fuss zur Seite rollt.

Cura, ein Hüne von einem Mann, ist ein Theatertier, der sein Äusserstes gibt – präzise geführt von der Regie, aber immer hart an der Grenze zum Klischee. Auch stimmlich bestätigt er, dass er nicht zu Unrecht als Jungstar gehandelt wird. Sein Otello, zwischen lyrisch gehauchten Piani und förmlich herausgeschrienen Forti, ist allein die Reise nach Zürich wert.

Krieg der Sterne

Die Italienerin Daniela Dessi als Desdemona, welche die Rolle schon im letzten Zürcher «Otello», der Berghaus-Inszenierung von 1994, interpretiert hatte, verfügt schauspielerisch über ein zwar beschränktes Repertoire, singt aber ebenfalls auf höchstem Niveau. Ihre sorgsam entwickelten Piani wie ihre kraftvollen Melodie-Linien vermögen gleichermassen zu überzeugen.

Das Premierenpublikum am Sonntagabend war von den Solisten restlos begeistert, und feierte auch den russischen Dirigenten und «Otello»-Neuling Vladimir Fedoseyev. Dieser arbeitete die Vielschichtigkeit der Partitur von Verdi differenziert heraus, auch wenn er im ersten Akt noch mit Koordinationsproblemen zu kämpfen hatte und das Orchester zuweilen zu laut spielen liess.

Buh-Rufe dagegen gab es für Regisseur Bechtolf. Seine Personenführung und sein eigenes Spiel machen zwar einen Teil der Sensation des neuen Zürcher «Otello» aus, doch die martialische Sicht auf das Shakespearesche Eifersuchtsdrama in einem stählernen Krieg der Sterne-Szenarium mit Film-Grossleinwand im Hintergrund weiss er auf die Dauer hingegen nicht schlüssig zu machen.

swissinfo und Beat Glur (sda)

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