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Die Banalität des Erotischen

Die Zürcher Erotikmesse Extasia zieht jeweils Tausende an. Doch längst nicht alle kaufen da Peitschen und Vibratoren. Ein Augenschein an der provokativsten Branchenmesse der Schweiz.

Es riecht nach Bratfett. Händlerstände preisen ihre Ware an. Im hinteren Teil der Messehalle steht eine Bühne. Es gibt zwei Arten von Menschen hier: Die, die schauen. Und die, auf welche geschaut wird. Nackt sind eigentlich nur die Porno-Sternchen auf der Bühne. Davor: Trauben von Männern mit ihrer Kamera.

Der Rest des Publikums ist ganz Durchschnittsschweiz: Kichernde Teenager-Gruppen, Heteropaare mittleren Alters. Die Männer in Karohemd und Turnschuhen, die Frauen etwas ungelenk in Korsetts und Lackstiefelchen. Das ganz normale Paar von nebenan.

Von Peitschen und Pralinen 

Und so sind auch die feilgebotenen Produkte auf einem Spektrum von kinky bis profan anzutreffen. “Viele wollen ihr eingeschlafenes Liebesleben wecken”, sagt ein Händler. Er verkauft Weine. “Vielleicht trauen sie sich nicht, eine Peitsche zu kaufen. Aber eine Flasche Wein, das schon. Trinken die gemeinsam, nehmen sich wieder mal Zeit füreinander”, erklärt er. Das klingt fast romantisch. Und nach einem guten Geschäft.  

Zwischen Wühlkisten mit billiger Unterwäsche – drei Stück für zehn Franken – und allerlei Spassmachern befindet sich ein Stand, der auch an jedem Weihnachtsmarkt stehen könnte: Liebevoll arrangierte Pralinen, Lollies, Geschenkpackungen mit Zellophan und Schlaufe drumherum. Beim näheren Betrachten: Schokolade in Form von Geschlechtsteilen. 


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Die Formen sind Geschmackssache – schmecken tun die Stücke, die mir freundlich zum Probieren angeboten werden, vorzüglich. “Mein Partner und ich haben eine kleine Schokoladenmanufaktur”, beginnt Jeannette zu erzählen.

Boom seit “50 Shades of Grey”Im Hauptberuf arbeiten die beiden in der Logistik und im Marketing, das Schoko-Geschäft ist ihr zweites Standbein. “Wir stellen verschiedene Formen her, giessen die Schoggi, verpacken sie hübsch.” Ob sie denn immer Anrüchiges produzierten, will ich wissen. Jeannette lacht laut auf: Nein, 230 Formen hätten sie zur Auswahl. “Normalerweise machen wir Firmenaufträge.” Garagen bestellen für ihre Kunden Autos, Banken geben Sparschweinchen in Auftrag.”Hier sind die Leute offener – für uns ist es auch die Möglichkeit, neue Abnehmer zu treffen.” Also vielleicht den nächsten Garagisten oder Bankmanager. Seit dem Film “50 Shades of Grey” käme auch eine andere Klientel daher, stellt Jeannette fest.


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Das merkt auch Piroska. Die Ungarin ist seit fast 20 Jahren in der Schweiz. Sie ist Schneiderin. An ihrem Fetischkleider-Stand finden sich Anzüge aus Latex, Lack und Plastik. “Das ist alles Massarbeit”, sagt Piroska stolz. “Und PVC ist etwas vom Schwierigsten zu nähen”. Von billiger Chinaware hält sie nichts: “Das Zeug ist unbrauchbar und lässt sich nicht reparieren.” Der verrückteste Kundenwunsch? Für die Messe hat sie ihre Mutter aus Ungarn eingeflogen, die ihr zur Hand geht. Sonst ist sie eine One-Woman-Show, hat ein kleines Atelier. Diskretion sei ihr wichtig, sagt sie: “Die Leute sollen sich wohlfühlen mit ihren Wünschen.” Sie hat etwas von der gütigen Tante, die einen ohne Vorbehalt in die Arme schliesst. Die Liebe zum Handwerk und der Pragmatismus scheinen ihre Gebote zu sein. Auf meine Frage nach dem verrücktesten Kundenwunsch lächelt sie wohlwissend: “Es gibt nichts Verrücktes. Jeder Mensch ist anders.”An diesen Satz versuche ich auf dem Rückweg aus der Halle zu denken, an den filmenden Männern und knapp bekleideten Stripperinnen vorbei. Und am einsamen, christlichen Protestierer vor dem Eingang. Er umklammert im Regen ein Schild, das vor Sodom und Gomorrha warnt.

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