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Wo Migration ein Gesicht erhält

Weltkarte mit Länderfähnchen und Fähnchen mit Schweizer Kreuz
Die Schweiz ist nicht nur ein Einwanderungsland. Mehr als 10% aller Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland. Und das ist jedes Mal mit einer ganz persönlichen Geschichte verbunden. Thomas Kern/swissinfo.ch

Eine Gruppe von Autorinnen und Autoren zeichnet in der Schweiz Geschichten der Migration auf. Dafür stellen sie in Museen ihr "Büro für Migrationsgeschichten" auf. Das Projekt entstand aus den Trümmern der gescheiterten Idee eines eigenständigen Migrationsmuseums.

“Eine junge Frau aus Chile kam zu mir an den ‘Schalter’. Sie erzählte, ihr Urgrossvater sei nach Chile ausgewandert, sie habe ein paar Dokumente dabei aus Einwohnerregistern in Lauterbrunnen, Basel und Zürich. Vielmehr wisse sie aber auch nicht.”

Das Büro aktuell vor Ort

Das Büro für Migrationsgeschichten ist gegenwärtig an der Ausstellung “Die Schweiz anderswo”Externer Link im Forum Schweizer Geschichte Schwyz zu Gast. Nächste Daten: 11. und 22.9., nachmittags. Die Ausstellung dauert noch bis zum 29.9.2019.

Zudem wird das Büro während drei Tagen vom 27.-29.8. in der “Robert-Walser-Sculpture” des Berner Künstlers Thomas Hirschhorn in Biel zu Gast sein.

So oder ähnlich beginnen oft die Migrationsgeschichten, die Beat Mazenauer in verschiedenen Museen der Schweiz zugetragen werden. Er ist freischaffender Autor, Literaturkritiker und Netzwerker. An den Ausstellungen ist er in seiner Funktion als Projektleiter des viersprachigen Musée Imaginaire des MigrationsExterner Link (MIM) und dessen Büro für Migrationsgeschichten vor Ort.

Mazenauer und drei weitere Personen, je nach Einsatz unterstützt von bekannten Autorinnen und Autoren, betreiben das Büro. Er bezeichnet es als analogen, realen Arm des Imaginären Museums, das nur im Internet existiert.

Auf dieser Website werden all die Migrationsgeschichten gesammelt, welche die Autorinnen und Autoren im Verlauf der Zeit aufzeichnen und zu Papier bringen.

>> Im Video erzählt Beat Mazenauer seine liebste Migrationsgeschichte, die sich zwischen der Schweiz und Brasilien abspielte.

Der “Schalter”

Konkret wird in Ausstellungen zum Thema Migration beispielsweise jeweils eine Art Fremdenpolizei-Büro eingerichtet, denn Migration sei immer auch mit einem administrativen Aufwand verbunden. “Wir sind gewissermassen zu den Bürozeiten da, und Menschen können sich anmelden oder einfach vorbeikommen, mit einem von uns über Migration sprechen oder ihre Migrationsgeschichte loswerden, uns erzählen. Wir transkribieren sie dann, bringen sie in eine Form, schicken diese zurück, fragen nach, ob das so stimmt”, so Mazenauer.

Daraus entsteht dann entweder eine Art Broschüre, ein Eintrag auf der Website oder beides. “In diesem Online-Archiv gibt es aktuelle, aber auch historische Migrationsgeschichten. Es soll zeigen, wie vielfältig Migration letztlich auch in diesem Land ist”, sagt Mazenauer.

Mann hinter und Mann vor dem fiktiven Schalter Amt für Auswanderung an einer Ausstellung
Beat Mazenauer am fiktiven Schalter “Amt für Auswanderung” an der Ausstellung “Die Schweiz anderswo” im Forum Schweizer Geschichte Schwyz. Landesmuseum

Zudem wandern einige dieser Geschichten jeweils in einer Vitrine als Gäste zu verschiedenen Schweizer Museen. Gegenwärtig zu sehen sind solche im Berner Museum für Kommunikation, im Zollmuseum Gandria, im Kultur-Historischen Museum Grenchen, im Museum Langenthal und im Dichter- und Stadtmuseum Liestal.

“Es geht bei Migration auch um die Erfahrung des Verpflanztwerdens, des Irgendwohingehens, des Neuaufbaus, der Neugründung, der neuen Hoffnung. Das ist ja mit vielen Hoffnungen und Illusionen verbunden, und die werden manchmal eingelöst, manchmal nicht. Es hat auch etwas Berührendes, das sind zum Teil drastische Geschichten”, sagt Mazenauer.

Fixes Museum war geplant

Das Ganze läuft unter einem bescheidenen Budget. Man habe noch etwas Geld von der Anschubfinanzierung des Bundes, sagt Mazenauer. Das Budget betrage vielleicht 2000 bis 5000 Franken pro Jahr. “Es ist eine Mischung von Gratisarbeit und Honorierung der Aufwände.”

Dabei hätte einmal alles viel grösser werden sollen. Migrationsmuseen gibt es in vielen Ländern. Der Verein Migrationsmuseum hatte 1998 angefangen, sich für eine gleichnamige Institution als öffentlichen Ort einzusetzen. Wegen der Finanzkrise 2008 setzte die Stadt Zürich, die das Projekt bereits in ihr Kulturleitbild aufgenommen hatte, dieses aber zurück auf Feld Eins. Enttäuscht gab der Verein auf.

Tische und Bänke, zwei Handwerker beim Einrichten eines Museumsraums
Handwerker beim Einrichten des Büros für Migrationsgeschichten in der Ausstellung in Schwyz. Thomas Kern/swissinfo.ch

Aus den Trümmern des Projekts entstand so schliesslich auf Initiative der Autorinnen und Autoren Schweiz (AdS), der Nachfolgeorganisation des 2002 aufgelösten Schweizerischen Schriftstellerverbands, das Musée Imaginaire des Migrations.

Die bestehenden Museen zeigten sich interessiert an der Idee, und so kam es, dass sie in Ausstellungen zum Thema seit gut einem Jahr eine Anlaufstelle für die Migrationsgeschichten einrichten. Der Verband der Schweizer Museen (VSM) hat das MIM denn auch seit seinen den Anfängen unterstützt.

Migrationsland Schweiz

Zwar leben in der Schweiz mehr als 20% Ausländerinnen und Ausländer. Und über 760’000 Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland. Doch Migration ist auch ein innerschweizerisches Thema. “Salopp gesagt, haben wir alle Migrationshintergrund, irgendwie”, betont Mazenauer.

Als Beispiel nennt er den Schriftsteller Hugo Loetscher. Dieser landete als katholischer Entlebucher Junge im protestantischen Zürich. “Das wirkt heute nicht mehr so drastisch, aber das war in den 1940er-, 50er-Jahren eine echte Migrationsgeschichte.”

Schubladenstock mit Karteikarten Übersee-Schweizer
In solchen Karteikästen wurden früher die Ausgewanderten verzeichnet. Thomas Kern/swissinfo.ch

Der Projektleiter möchte die Idee künftig auch über die Museen hinaustragen und mit dem Büro beispielsweise in ein Gemeinschaftszentrum gehen. Auch sei er bereits an Schulen gewesen, die das Thema behandelt hätten.

Der jungen Chilenin konnte Mazenauer schliesslich auch helfen. Über alte Stadtpläne der Stadt Zürich fand er heraus, wo ihre Familie früher gewohnt hatte. Denn die Strasse, die auf den Formularen verzeichnet war, hatte seither einen neuen Namen bekommen.

Für Mazenauer ist klar: Auch einige wenige Daten reichen, um eine Migrationsgeschichte erzählen zu können. “Wir möchten mit dem MIM zeigen, dass jede Geschichte ein Teil davon werden darf, auch wenn sie einfach ist.”

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