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Schweizer Lösungen für die Speicherung der Energie von morgen

Eine riesige Wasserbatterie in den Schweizer Alpen

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Das Kraftwerk Nant de Drance nutzt zwei künstliche Seen: den oberen See von Vieux Emosson, unten links im Bild, und den unteren See von Emosson. Nant de Drance / Sébastien Moret

Die Schweiz kann mit ihren Wasserkraftwerken einen entscheidenden Impuls für die Energiewende in Europa geben. Ein neues Pumpspeicher- und Turbinen-Kraftwerk in einer der abgelegensten und höchstgelegenen Gegenden des Landes wird es ermöglichen, Schwankungen der Wind- und Sonnenenergie auszugleichen.

“Die elektrische Speicherkapazität des Sees entspricht der von mehr als 400’000 Elektroauto-Batterien”, sagt Diplomingenieur Alain Sauthier und blickt auf den Vieux Emosson, einen 1955 angelegten Stausee in der Region Finhaut in den Walliser Alpen.

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Der See Vieux Emosson kann bis zu 25 Millionen Kubikmeter Wasser fassen. Nant de Drance / Sébastien Moret

Wir befinden uns auf 2225 Metern über dem Meeresspiegel und Alain Sauthier, Direktor des Pumpspeicher- und Turbinen-Wasserkraftwerks Nant de Drance, möchte uns zeigen, wie eine der leistungsstärksten “elektrischen Wasserbatterien” in Europa funktioniert.

Das Kraftwerk nutzt zwei Stauseen, einen oberen Speichersee und ein unteres Wasserbecken. Das im See Vieux Emosson gespeicherte Wasser wird abwärts geleitet, um in Spitzenzeiten Strom zu erzeugen. Aus dem rund 300 Meter tiefer gelegenen Emosson-See wird das Wasser wieder nach oben gepumpt und während Zeiten von Überproduktion gespeichert.

“Es ist eine ökologische Batterie, die immer das gleiche Wasser verwendet. Der Wirkungsgrad liegt bei über 80%: Für jede Kilowattstunde Strom, die wir zum Pumpen des Wassers verbrauchen, speisen wir 0,8 Kilowattstunden in das Netz ein”, erklärt Sauthier.

>> Sehen Sie sich den Kurzfilm unten an, um einen dreidimensionalen Eindruck von der Anlage zu bekommen:

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Zwischen 2012 und 2016 wurde der Staudamm von Vieux Emosson um rund 20 Meter erhöht, um das Fassungsvermögen des Sees zu vergrössern und damit mehr Energie zu speichern, erklärt Sauthier.

“In Zukunft werden wir grosse Mengen an Strom speichern müssen. Denn wir werden immer mehr nukleare und fossile Energien durch erneuerbare Energien ersetzen”, sagt er. Der Ingenieur weist darauf hin, dass Sonnen- und Windenergie unbeständige Quellen sind, die nicht unbedingt dann Strom produzieren, wenn wir ihn brauchen. Deshalb sei es wichtig, dass solche Systeme vorhanden sind, um Energie zu speichern und das Netz stabil zu halten.

Turm von Pisa in den Alpen

Von der Staumauer des Vieux Emosson aus betreten wir den Berg durch ein Metallportal im Fels. Der Direktor von Nant de Drance möchte uns in das Herzstück der Anlage, den Maschinenraum, führen.

Während der Fahrt durch einen der Tunnels der Anlage erinnert Sauthier an die logistischen und technischen Herausforderungen eines der grössten Infrastrukturprojekte der Schweiz seit der Jahrtausendwende. In den Walliser Alpen wurden insgesamt 18 km Tunnel gegraben. Hunderte von Lastwagen fuhren durch den Haupttunnel und brachten alles Mögliche, von vorgefertigten Bürocontainern bis hin zu über hundert Tonnen schweren Kugelventilen.

Zu den hektischsten Zeiten waren bis zu 500 Arbeiterinnen und Arbeiter im Berg tätig. “Unter Tage besteht die grösste Gefahr durch Feuer und insbesondere durch Rauch. Dies ist einer der grössten Erfolge des Projekts: Seit Beginn der Arbeiten vor zwölf Jahren gab es keine tödlichen oder schweren Unfälle”, freut sich Sauthier.

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Wasserentnahmestellen im oberen See von Vieux Emosson. Nant de Drance / Sébastien Moret

Nach einigen Kilometern durch einen feuchten und dunklen Tunnel, mit 600 Metern Fels über unseren Köpfen, erreichen wir den Maschinenraum. Die fast 200 Meter lange und 32 Meter breite Kaverne war ursprünglich 52 Meter hoch. “Wir hätten dort auch den schiefen Turm von Pisa aufstellen können”, sagt Sauthier. Heute wird ein Teil des Platzes von den Betonstrukturen eingenommen, in denen die Pumpturbinen untergebracht sind, aber der Ausblick ist immer noch beeindruckend.

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Der Maschinenraum im Kraftwerk Nant de Drance. Nant de Drance / Sébastien Moret

Zu gross für die Schweiz

Mit einer Leistung von 900 Megawatt gehört Nant de Drance zusammen mit Linthal im Kanton Glarus (1’000 MW) zu den leistungsstärksten Kraftwerken Europas.

Das Kraftwerk ist für die Stromversorgung und die Netzstabilität unverzichtbar, “aber für die Schweiz ist es viel zu gross”, so der Ingenieur. “Es könnte eine Rolle bei der Stabilisierung des Netzes auf europäischer Ebene spielen. Wir befinden uns im Zentrum des Kontinents und der Strom fliesst durch die Schweiz. Wenn es in Deutschland eine Überproduktion von Windstrom gibt, können wir den überschüssigen Strom hier zum Pumpen und Speichern von Wasser nutzen.”

616’000 potenzielle Standorte weltweit

Mit Hilfe von Pumpspeicher-Kraftwerken könne in Zukunft immer mehr Ökostrom gespeichert und in Zeiten der Knappheit wieder abgegeben werden, schreibt der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen. “Dank ihrer Kraftwerke kann die Schweiz zur Integration der unregelmässigen Stromerzeugung in Europa beitragen. Ihre Rolle sollte jedoch nicht überschätzt werden, da sie in erster Linie von der Kapazität der bestehenden Leitungen abhängt”, betont der Verband.

“Die Pumpturbine ist eine ausgereifte Technologie”, sagt Benoît Revaz vom Bundesamt für Energie (BFE). Es seien jedoch noch Fortschritte erforderlich, um die Flexibilität des Systems in Bezug auf die aktuellen Betriebsbedingungen zu verbessern. Zusammen mit elf anderen Ländern beteiligt sich die Schweiz an einem internationalen Forum, das die Entwicklung der Pumpspeicherung auf den Strommärkten wiederbeleben soll.

Laut Matthew Stocks von der Australian National University gibt es weltweit 616’000 Standorte, an denen geschlossene Wasserpumpwerke mit zwei Reservoirs gebaut werden könnten. Schon ein Prozent würde ausreichen, um das Problem der intermittierenden Energiespeicherung zu lösen, betont er, stützt seine Einschätzung aber auf rein geografische Überlegungen.

Schnelles Reagieren auf den Preis

Abgesehen von seinem Potenzial muss das Kraftwerk Nant de Drance, das sich im Besitz einer von der Elektrizitätsgesellschaft Alpiq und den Schweizerischen Bundesbahnen geführten Gesellschaft befindet, natürlich über die Runden kommen. Keine leichte Aufgabe in einem Sektor, der in den letzten Jahren mit finanziellen Schwierigkeiten und der Unberechenbarkeit des Strommarktes konfrontiert war.

“Wir arbeiten mit dem Preisunterschied: Wir müssen schnell reagieren und pumpen, wenn der Preis niedrig ist, und turbinieren, wenn er hoch ist. Früher haben wir tagsüber turbiniert und nachts gepumpt, aber jetzt hat sich die Situation geändert, da der Spitzenverbrauch bis in die späten Abendstunden anhält”, erklärt Sauthier.

Nant de Drance wird im Sommer 2022 für die kommerzielle Produktion voll einsatzfähig sein. Die Hoffnung der Betreibenden ist, dass es rentabel wird, wenn die Kernkraftwerke endlich abgeschaltet werden und die erneuerbaren Energien die fossilen Brennstoffe ablösen.

Das SymposiumExterner Link in Winterthur am 2. und 3. September 2021 bringt Teilnehmende aus dem öffentlichen und privaten Sektor zusammen, um die Herausforderungen und Lösungen zur Erreichung der UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu diskutieren. Erneuerbare Energien und die Versorgung mit Rohstoffen gehören zu den Hauptthemen der diesjährigen Ausgabe.

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Sibilla Bondolfi

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