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Jetzt fliegen die Fetzen zwischen den Kantonen

Da in Griechenland die Steuern erhöht werden (müssen), zog Coca Cola lieber gleich in die Schweiz um. Keystone

In besseren Zeiten hätte die Verlegung des Firmensitzes von Coca-Cola Hellenic aus Griechenland nach Zug in der Schweiz uneingeschränkte Freude ausgelöst. Heute jedoch verbirgt sich dahinter ein wachsendes steuerpolitisches Unbehagen zwischen den Kantonen.

Weil der grosse Getränkeabfüller Coca Cola Hellenic im kriselnden Griechenland mehr Steuern bezahlen müsste, ist er Mitte Oktober in die Schweiz umgezogen. Aber gerade diese ungebrochene Anziehungskraft der Schweiz für multinationale Konzerne ist der Europäischen Union (EU), respektive Brüssel, ein Dorn im Auge.

Der seit langem gärende Steuerstreit der Schweiz mit der EU über die Steuererleichterungen bei Holding-, Domizil- oder gemischten Gesellschaften hat nun auch zu einem Streit der Kantone untereinander geführt. Es geht um Milliarden von Franken an Steuereinnahmen, die verlustig gehen könnten. Ausserdem steht die Reputation der Schweiz als steuerlich attraktiver Standort für multinationale Unternehmen auf dem Spiel.

Auf den Ausgang dieses Streits warten Tausende von in der Schweiz ansässigen ausländischen Holdings. Diese erzielen ihre Gewinne in (EU-)Hochsteuerländern, versteuern sie aber günstiger im Niedrigsteuerland Schweiz, im Jargon “Ring Fencing” genannt. Die EU möchte ein Ende dieses aus ihrer Sicht wettbewerbsverzerrenden Steuerprivilegs, wonach im Inland und im Ausland gemachte Gewinne unterschiedlich besteuert werden. Die Kantone wiederum befürchten einen Exodus dieser Firmen, sollte diese Bevorzugung wegfallen.

“Langsam dämmert die Erkenntnis, dass diese einseitige Bevorteilung ein Ende wird haben müssen”, sagt Thomas Cottier, Ordinarius für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern, gegenüber swissinfo.ch . Sonst könne man sich auf Retorsions-Massnahmen seitens der EU gefasst machen.

Sorgen macht sich auch SwissHoldings, der Landesverband der multinationalen Konzerne. An einer Umfrage vor drei Jahren befand nämlich ein Drittel der befragten 400 Mitglieder, dass die Attraktivität der Schweiz abnehme. Wichtigste Ursache dafür: die fiskalische Unsicherheit.

Fast vier Milliarden allein für Genf

SwissHoldings warnte damals. Laut Umfrage wären andere, mit der Schweiz konkurrierende Domizilländer wie die Benelux-Länder, Grossbritannien, Frankreich und Singapur ebenfalls sehr interessiert daran, den standortmässig sehr mobilen Multinationalen attraktive Bedingungen zu bieten.

Auch der Kanton Genf, Hauptsitz von zahlreichen gewinnorientierten Multinationalen wie Rohstoff-Firmen, fürchtet sich vor der wachsenden Bedrohung aus Brüssel. Genf domiziliert 945 steuerprivilegierte Firmen, plus 136 ihrer Tochterfirmen. Dies beschert dem Kanton Steuereinnahmen von insgesamt 576 Mio. Fr. In der Schweiz insgesamt gibt es 23’500 solcher Firmen.

Doch der gesamtwirtschaftliche Beitrag dieser über 1000 Multinationalen an die Genfer Wirtschaft liegt viel höher. Inklusive Beschäftigungseffekt und Aufträge an Dritte wird er von der Universität Lausanne auf 3,7 Mrd. Franken pro Jahr geschätzt.

Drastische Steuerkürzung

Neuenburg hat gezeigt, wie man aus diesem Dilemma des Vermeidens von Steuerausfällen einerseits und dem Druck von Brüssel anderseits herausfindet: Streichen der umstrittenen Steuererleichterungen und dafür Halbierung der ordentlichen Steuersätze. Damit verbleibt Neuenburg als Steuerdomizil im Wettbewerb mit internationalen Rivalen wie Irland.

Nur: Diese Lösung mag für Neuenburg funktionieren. Doch für solche Kantone, die mehr Holdings und andere Firmenhauptsitze beherbergen, würde dies wegen dem Einnahmenausfall zu einem grossen Budgetdefizit führen.

So hat der Kanton Genf ausgerechnet, dass ihn Steuerkürzungen à la Neuenburg rund 460 Mio. Fr. Einnahmen kosten würden. Zürich rechnet für diesen Fall mit einem Ausfall von 850, Basel Stadt mit 350 und der Kanton Waadt mit 300 bis 400 Millionen.

Schweizer Finanzausgleich gerät durcheinander

Doch auch die gesamte Schweiz würde die Effekte dieser kantonalen Steuerausfälle spüren: Der Finanzausgleich zwischen armen und reichen Kantonen würde durcheinander geraten – ein zentrales Instrument des solidarischen Föderalismus und des politischen Systems. Dieser Finanzausgleich verbindet die Höhe der Unternehmenssteuer-Einnahmen mit der Höhe der Ausgleichsbeträge, die als Unterstützung bezahlt oder erhalten werden.

Je mehr Unternehmenssteuern ein Kanton einnimmt, desto mehr muss er an Nehmerkantone weitergeben. Deshalb jammern die Geberkantone, die am meisten weitergeben, auch am lautesten. Laut Nehmerkantonen locken die kleinen Niedersteuer-Kantone Holdingfirmen auch damit an, dass sie sich in der Nähe urbaner Zentren befinden. Diese liegen aber in ärmeren Nehmerkantonen und kommen auch selber für diese Annehmlichkeiten auf.

Solche sich überschneidende Bedürfnisse haben nun zu verbalen Auseinandersetzungen zwischen den Kantonen geführt, was einen Rüffel seitens der schweizerischen Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf nach sich zog. “Dieses Problem müssen wir aus einer objektiveren Warte betrachten”, erklärte sie gegenüber dem Schweizer Fernsehen. Sie rief die Kantone zur Zusammenarbeit auf anstatt einzeln auszuschlagen.

EU-fiskalische Kreativität: Lizenzbox

Sollten einige Kantone von Brüssel dazu gezwungen werden, ihr Steuersystem der EU anzupassen und damit Steuereinnahmen zu verlieren, vermag auch eine koordinierte und harmonische Kooperation das Problem des Finanzausgleichs nur schwer lösen.

“Eine Lösung dieses Steuerproblems im Inland ist sicher nicht einfacher zu finden als eine Lösung mit der EU”, sagte die Baselstädtische Finanzdirektorin Eva Herzog gegenüber dem Tages-Anzeiger.

Laut Steuerexperten soll jeder Kanton auf Grund seiner eigenen, speziellen Situation auch seine eigene Lösung mit der EU finden. Einige können es sich leisten, die Steuersätze generell zu senken, um international wettbewerbsfähig zu bleiben, während andere Kantone zu mehr Fiskal-Kreativität gezwungen sein könnten.

Eine dieser kreativen Taktiken könnte es sein, unternehmenssteuerliche “Effizienz” zu übernehmen, wie sie in EU-Ländern bereits praktiziert wird: Ermöglichen von Steuerverlustvorträgen bis zur Markteinführung von Produkten, oder Einführen einer so genannten IP-Box-Lösung in allen Kantonen (Steuerrabatt-Variante Lizenzbox). Diese erlaubt reduzierte Steuersätze auf jenen Einnahmen, welche auf die Vergabe von Patenten, Markenvertriebsrechten, Produkten, Dienstleistungen und Lizenzen (Geistiges Eigentum) zurückgehen.

“Die Kantone haben keine andere Wahl, als einen Mittelweg mit der EU zu finden”, sagt Cottier, was einen enormen Aufwand erfordere. “Dennoch bleibt immer die Bedrohung, dass Unternehmen die Schweiz verlassen, falls die Besteuerung strenger ausfällt.”

1990 hat die Schweiz ihr Steuergesetz so abgeändert, dass es den Kantonen erlaubt ist, für im Ausland erarbeitete Gewinne von Holding-, Domizil- oder gemischten Gesellschaften tiefere Steuersätze anzuwenden.

Solche Firmen werden oft als Briefkastenfirmen bezeichnet, weil sie keine physische Präsenz oder Personal im betreffenden Kanton haben, obwohl sie dort domiziliert sind.

Gewinne, die in anderen Ländern gemacht worden sind, werden an die betreffende Postadresse weitergeleitet. Damit können Steuern umgangen werden. Der Typus Briefkastenfirma ist deshalb die von Brüssel am meisten gehasste Gesellschaftsform.

2005 monierte die EU, dass diese Schweizer Steuerpraxis den Prinzipien des fairen Wettbewerbs zuwiderlaufe, welche im Freihandelsabkommen von 1972 zwischen der (damaligen) EWG und der Schweiz festgehalten sind. Diesen Einwand der Wettbewerbs-Verfälschung blendete die Schweiz zuerst aus, zögerte ihn darauf unwillig heraus, bis sie – an der Rand gedrängt – nachgeben musste.

Laut Bund (Oktober 2011) gibt es aber keine vertragliche Regelung zwischen der Schweiz und der EU, die sie verpflichtet, ihre Unternehmensbesteuerung der EU anzupassen, auch im Freihandels-Abkommen nicht.

Die Steuerbehörde des Bundes kommt für 2009 auf 23’524 domizilierte Firmen mit solchem Steuerprivileg, von insgesamt 334’519 registrierten Unternehmen.

Gemäss derselben Behörde erbrachten diese privilegierten Firmen 3,8 Mrd. Fr. Einnahmen aus direkten Unternehmenssteuern – beinahe die Hälfte der Summe der landesweiten Einnahmen von 8,2 Mrd. Fr. im Jahr 2009.

(Übertragung aus dem Englischen: Alexander Künzle)

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