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Diese Frau nimmt die Schweizer Hochschulen in unsicheren Zeiten an die Hand

Luciana Vaccaro
Die Präsidentschaft von Luciana Vaccaro von Swissuniversities dauert von Februar 2023 bis Juli 2024. Guillaume Perret / Lundi13

Luciana Vaccaro wird in Kürze die Präsidentschaft von Swissuniversities übernehmen, dem Dachverband der Schweizer Hochschulen. Eine ganze Reihe von Themen erwartet sie – darunter auch die Frage, was sie gegen den anhaltenden Ausschluss der Schweiz von wichtigen europäischen Forschungs- und Bildungsprogrammen unternehmen soll.

Sie sei “demütig” über die Übernahme des Präsidiums von Swissuniversities, das sie offiziell im Februar antritt, sagt Luciana Vaccaro im Videochat. Die gelernte Physikerin ist auch Rektorin der Fachhochschule Westschweiz (HES-SO), der grössten Hochschule dieser Art in der Schweiz.

Vaccaro wurde 1969 in der Schweiz geboren, während ihr Vater bei der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) in der Nähe von Genf arbeitete. Den grössten Teil ihrer Kindheit verbrachte sie jedoch in Neapel, Italien.

Die 54-Jährige hat einen Master-Abschluss in Physik von der Universität Federico II in Neapel und einen Doktortitel in Mikrotechnologie von der EPFL.

Seit 2006 konzentriert sie sich auf das Hochschulmanagement und war Mitglied mehrerer nationaler Wissenschafts- und Innovationsräte.

2013 wurde Vaccaro im Alter von nur 44 Jahren zur Rektorin der HES-SO ernannt. Diese Institution hat 22’000 Studierende und ist auf sieben Westschweizer Kantone verteilt.

Vaccaro ist verheiratet und hat zwei Töchter. In ihrer Freizeit kocht sie gerne (besonders für Freunde), treibt Sport und geht auf Reisen.

Als Präsidentin von Swissuniversities wird die schweizerisch-italienische Doppelbürgerin die Schweizer Hochschulgemeinschaft auf nationaler und internationaler Ebene vertreten.

Sie wird sich speziell einsetzen für die Wiederaufnahme in Horizon Europe, dem weltweit grössten Forschungsförderungsprogramm, und in Erasmus+, dem Programm für Bildung und Austausch.

Die Verhandlungen mit der Europäischen Union zu diesen Themen sind derzeit ins Stocken geraten. Die beiden Parteien sind sich politisch uneinig über die Gestaltung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU.

SWI swissinfo.ch: Eine der grössten Herausforderungen, mit denen Sie als SwissuniversitiesPräsidentin konfrontiert sein werden, ist der Ausschluss der Schweiz von Horizon Europe ab 2021 und der Verlust des Zugangs zu dessen Budget von 95,5 Milliarden Euro (95 Milliarden Franken). Wie werden Sie dieses Problem angehen?

Luciana Vaccaro: Das Problem ist jetzt politischer Natur, also weit über meinem Kopf. Die Schweiz und Europa werden eines Tages einen gemeinsamen Weg finden, um ihre politischen Probleme zu lösen. Aber darauf kann ich keinen Einfluss nehmen.

Was ich aber sagen werde – und immer wiederholen werde – ist, dass eine vollständige Assoziierung an Horizon Europe wichtig ist: für unsere [wissenschaftliche] Gemeinschaft und besonders für unsere jungen Forschenden und Studierenden.

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Wir sind sehr dankbar, dass die Schweizer Gelder, die eigentlich für Brüssel [für Horizon Europe] vorgesehen waren, in der Schweiz bleiben und für die Forschung eingesetzt werden.

Wir müssen darüber nachdenken, wie wir das, was [Horizon Europe] auf den nationalen Ebenen tut, ersetzen können. Und wie wir die verschiedenen Finanzierungsinstrumente ersetzen können, zu denen wir keinen Zugang mehr haben.

Gleichzeitig sind wir uns bewusst, dass selbst wenn wir bilaterale Programme mit dem Vereinigten Königreich oder Frankreich haben, dies den Multilateralismus nicht ersetzen wird.

Unsere Universitäten müssen von diesen Mitteln profitieren, um auf ihrem aktuellen Niveau zu bleiben. In der Hoffnung, dass wir so bald wie möglich wieder an Horizon Europe angeschlossen werden. Ich werde also nicht aufgeben: Auch wenn ich vermute, dass das Problem unter meiner Präsidentschaft nicht gelöst werden wird.

Horizon Europe ist also Ihre höchste Priorität?

Es ist die Grösste in Bezug auf “Breaking News”. Aber innenpolitisch haben wir eine Budgetfrage vor uns, weil wir gerade über die Planung [unter anderem der Bundesmittel für die Hochschulen] 2025-2028 beraten und das Parlament darüber abstimmen muss. Das ist grundsätzlich meine Hauptaufgabe.

Meine dritte Priorität ist die Wissenschaftsvermittlung. Unser System basiert auf diesem Vertrauen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Aber ich habe Situationen erlebt, in denen dieses Vertrauen erschüttert wurde.

Wir haben in den letzten Jahren viele wissenschaftsfeindliche Bewegungen zu Klima, Impfstoffen und Covid gesehen. Wir können nicht jeden Gesellschaftszweig beeinflussen. Aber wir sollten der Gesellschaft helfen, unser Handeln besser zu verstehen.

Ein Punkt ist die Transparenz der Wissenschaft und des Wissenschaftsprozesses. Zum Beispiel zu erklären, dass die Wissenschaft auch dem Scheitern ausgesetzt ist. Aber das bedeutet nicht, dass wir gefälschte Daten haben. Es bedeutet, dass wir uns in einem Erkenntnisprozess befinden, in dem es manchmal vorkommt, dass wir uns irren.

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Auch die Legitimität ist ein Thema. Wir müssen die Gründe hinter einigen Entscheiden erklären. Warum haben wir diese Taskforce in der Schweiz? Warum diese Expertinnen und Experten? Wichtig ist auch eine klare und kohärente Kommunikation.

Die Covid-19-Pandemie war für die Universitäten sehr einschneidend. In den letzten drei Jahren kam es zu Schliessungen und Fernunterricht. Spüren die Schweizer Hochschulen die Auswirkungen noch immer?

Es gab zwei gegenläufige Effekte. Der eine war die enorme Beschleunigung der Digitalisierung. Das war 2019 noch nicht einmal denkbar. Es führte zu einer sehr guten Debatte über die Grenzen der digitalen Bildung und die Bedeutung des Lernens auf dem Campus.

Wir wissen, dass unsere Universitäten nicht zu Fernuniversitäten werden – Studierende, Professorinnen und Professoren brauchen den Campus. Wir brauchen diese Art der Interaktion für den Aufbau und den Übergang von Wissen.

Die digitale Bildung hat uns gezeigt, dass wir lernen können, ohne uns zeitlich und örtlich festlegen zu müssen. Das müssen wir uns also für die Zukunft im Sinn einer Flexibilisierung des Studiums überlegen.

Sie sind sie erste leitende Person einer Fachhochschule (FH), die Swissuniversities präsidieren wird. Das ist ein ziemlicher Coup für diese neueren, stärker industrieorientierten Schweizer Institutionen. Sind die Fachhochschulen “angekommen”?

Das hat ein wenig mit meiner persönlichen Geschichte zu tun. Als ich noch sehr jung war, hörte ich einmal eine Konferenz in Brüssel mit [der schottischen Professorin] Anne Glover, der wissenschaftlichen Beraterin von José Manuel Barroso [damals Präsident der Europäischen Kommission].

Ich erinnere mich genau daran: Sie wurde als erste Frau vorgestellt, die im Lauf ihrer Karriere bestimmte Positionen eingenommen hatte. Und sie sagte: Im nächsten Job möchte ich einmal die Zweite sein!

Ich bin auch immer die Erste, die etwas macht. Aber es ist unser [Hochschul-] Gesetz, das besagt, dass wir eine einzige Konferenz für alle unsere Hochschulen haben sollten. Dass eine FH-Rektorin Zugang zu diesem Job hat, bedeutet, dass wir unser Gesetz erfüllen und die Vision der Politik richtig war.

Die Schweiz hat zehn traditionelle Universitäten und zwei hochrangige Eidgenössische Technologieinstitute: die ETH in Zürich und die EPFL in Lausanne.

Die neun Fachhochschulen sind ein relativ neues Konzept aus den 1990er-Jahren. Sie sind eher praxis- und industrieorientiert: Die Studierenden kommen meist aus der Berufslehre, die Professorinnen und Professoren verfügen über viel Praxiserfahrung.

Hinzu kommen 20 Pädagogische Hochschulen.

Swissuniversities wurde 2012 gegründet, um die drei Organisationen dieser verschiedenen Hochschultypen zu vereinen. Nach einer Übergangsphase wurde es 2015 mit dem Inkrafttreten des Hochschulförderungs- und Koordinationsgesetzes operativ.

Aber ich kann Ihnen sagen: Ich werde die Präsidentin von allen sein. Ausserdem habe ich einen sehr gemischten Hintergrund, denn ich wurde an einer sehr alten Universität in Neapel ausgebildet und besuchte auch die EPFL [Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne].

Als Präsidentin muss ich diese Vielfalt zusammenbringen. Es ist ähnlich wie was ich an der HES-SO mache, weil wir eine grosse Vielfalt zwischen den sieben Kantonen und den sechs Studienbereichen haben, die wir als Institution abdecken.

Wie sehen Sie die Zukunft der Hochschulen in der Schweiz?

Wenn ich an die Zukunft denke, bin ich immer optimistisch. Und ich habe insofern Grund zum Optimismus, als wir – wie bereits gesagt – in der Schweiz eine sehr breite politische und öffentliche Unterstützung geniessen. Ich habe viele Länder besucht, an verschiedenen Orten gelebt und kann Ihnen sagen: Das ist ein Privileg.

Allerdings leben wir derzeit in einer sehr instabilen [globalen] Situation. Also müssen wir uns dieser Unsicherheit stellen können. Als Covid anfing, dachte ich: Wow, es gibt kein Buch darüber, wie man eine Universität während einer Pandemie führt. Aber immerhin habe ich gelernt, eine Hochschule in unsicheren Zeiten zu führen. Und dem sind wir heute ausgesetzt.

Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

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