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Die Deutschen mögen das Tessin

Zwischen den Deutschen und dem Tessin gibt es eine lange Liebesbeziehung. Schon vor über hundert Jahren machten die ersten Deutschen das Tessin zu ihrer Wahlheimat. Heute leben und arbeiten 3500 Deutsche im "Canton Ticino".

Es war um 1900, als die ersten Deutschen im Tessin von sich reden machten. Sieben junge Leute aus München, unter ihnen die Pianistin Ida Hofmann, Henri Oedenkofen, Sohn eines Industriellen, und die zwei Brüder Karl und Arthur Gräser, gründeten in Ascona eine Gemeinschaft mit Lebensreformern.

Mit diesen ersten Aussteigern begann eine lang anhaltende Tradition. Der Monte Verità ob Ascona zog immer wieder Personen aus Deutschland an. 1926 erwarb der umstrittene – da mit den Nazis verbandelte – Bankier Eduard von der Heydt aus Wuppertal den Monte Verità. Er liess vom Bauhaus-Architekten Emil Fahrenkamp ein neues Hotel bauen.

Wenig später kaufte der jüdische Hamburger Kaufmann Max Emden die Brissago-Inseln und führte dort bis zu seinem Tod 1941 ein prächtiges Leben. In Montagnola – oberhalb des Luganer-Sees – hatte sich schon 1919 der Schriftsteller Hermann Hesse niedergelassen.

Berühmte Persönlichkeiten

Hesse lebte bis zu seinem Tod 1962 im Tessin, ist in St’Abbondio beerdigt. Zufall oder nicht: Das Hermann-Hesse-Museum in Montagnola wird heute von einer Berlinerin, Regina Bucher, geleitet.

Der Schriftsteller Erich Maria Remarque (“Im Westen nichts Neues!”) verliess 1932 Deutschland und zog nach Ronco s/Ascona. Denker wie Max Horkheimer oder Erich Fromm wählten später das Tessin für ihren Lebensabend.

Es war immer schon die Landschaft – die Kombination aus Bergen und Seen- , welche die Deutschen im Tessin verzauberte. Dazu das milde Klima und die südliche Atmosphäre. Jedes Jahre kommen Tausende von Touristen aus Deutschland ins Tessin – für die Tessiner Tourismusindustrie das wichtigste Kundensegment aus dem Ausland.

Gesellschaftlich integriert

Vielleicht leben heute nicht mehr so viele berühmte Deutsche im Tessin, aber dafür scheint es, dass sie heute stärker in die Tessiner Gesellschaft verwoben sind als früher.

So sind etwa an der Universität von Lugano einige Professoren oder Kursmanager aus Deutschland tätig, die Dimitri-Schule von Verscio wird von einem Deutschen geleitet. Und dass am Ableger der schwäbischen Firma Hugo Boss in Coldrerio (Mendrisiotto) Deutsche arbeiten, versteht sich von selbst.

Viele Vermögende

An vermögenden Deutschen gab und gibt es im Tessin einige. Man denke nur an den Kaufhauskönig Helmut Horten, der Ende 1968 nach Croglio ins Malcantone zog und 1987 dort starb. Oder den bayrischen Bäderkönig, Strauss-Intimus und mutmasslichen Steuerflüchtling Eduard Zwick, der sich 1982 ins Tessin absetzte, wo er 1998 starb. Dem Kanton schenkte er zum Dank eine Herzklinik

Bekannt ist auch Karl-Heinz Kipp (84), der ehemalige Eigentümer der deutschen Massa-Märkte, der sich als Multimilliardär das Hobby eleganter Luxushotels leistet. Er lebt in Arosa und in Ascona. In Ascona hat er das “Eden Roc” gekauft und zur führenden Edelherberge gemacht.

Gleichwohl wäre es falsch, jeden Deutschen im Tessin mit Reichtum in Verbindung zu bringen. Deutsche arbeiten auf allen Ebenen und Berufen: Vom Service bis zum Bankfachmann, von der Yogalehrerin bis zum Professor für Roboter und Künstliche Intelligenz.

Im Paradies

Ambrosius Pfaff ist einer der zahlreichen Deutschen, der das Tessin zu seiner Wahlheimat gemacht hat. Der 48-jährige Klavier- und Cembalobauer aus Emmendingen bei Freiburg kam vor 20 Jahren in die Schweiz und via Aarau ins Tessin. “Damals dachte ich: Jetzt bin ich im Paradies auf Erden angekommen”, erinnert er sich an seine ersten Eindrücken.

Nach einigen Jahren sieht er es etwas nüchterner, auch wenn er insgesamt “sehr zufrieden ist”. Als Spezialist für Tasteninstrumente mit Atelier in Locarno sei der Wirkungskreis etwas beschränkt. Ein Standort Basel wäre wahrscheinlich besser. Andererseits hatte er die Möglichkeit, ein eigenes Unternehmen mit Erfolg aufzubauen.

Pfaff ist verheiratet und hat zwei Kinder. Im Tessin fehlt ihm manchmal “der deutsche Humor”. Er hat sich denn auch einer deutschsprachigen Männer-Vereinigung zur Pflege von Freundschaft, Kunst und Humor angeschlossen, um ab und zu in der eigenen Sprache reden und lachen zu können..

“Nie mehr zurück”

Gut zwanzig Jahre ist auch Thomas Schmid schon in der Schweiz – seit neun Jahren im Tessin. Der 43-Jährige stammt aus Köln und ist seit 2003 Chefkoch im Zentrum Monte Verità ob Ascona, wo er viel experimentieren kann. Das gefällt ihm. Dank des Klimas kann er neben dem Restaurant einen immensen Kräutergarten betreiben.

“Schnee. Palmen und See: Das ist der Hit”, sagt er, während er aus dem Fenster auf den Lago Maggiore und die weissgepuderten Gipfel schaut. Er habe immer aus dem Flachland weg gewollt. Und als Snowboarder sei er den Bergen besonders verbunden.

Als Koch war er ewig auf Wanderschaft. Jetzt ist sein zu Hause das Tessin. Und da er gerade zusammen mit seiner Frau – einer Italienischbündnerin – ein Häuschen gekauft habe, ist das ewige Provisorium auch vorbei: “Eine Rückkehr nach Deutschland kommt für mich nicht in Frage.”

Unglücklich

Nicht immer ist die Emigration aus Deutschland ins Tessin aber eine Erfolgsgeschichte. Denn Sonne und See allein machen das Leben nicht aus. Manche Zugereiste haben Mühe, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Manche haben ihre Koffer wieder gepackt und sind zurück gegangen.

So erzählt eine 35-jährige Frau aus Bayern, die seit vielen Jahren bei Lugano lebt, dass sie mit der Mentalität der Tessiner Mühe habe und sich nicht akzeptiert fühle, obwohl sie gut Italienisch spreche. Für ihre beiden Kinder sei dies ganz anders: “Sie fühlen sich hier 100prozentig zu Hause.”

swissinfo, Gerhard Lob, Locarno

2800 km2: Grösse des Kantons Tessin (Rang 5 in der Schweiz)
193 Meter: Tiefster Punkt bei Ascona am Lago Maggiore
3400 Meter: Höchster Punkt Rheinwaldhorn
1803: Jahr des Beitritt des Kantons zur Eidgenossenschaft
610: Autodichte, Anzahl Autos auf 1000 Einwohner (höchste Dichte der Schweiz)
55’000. Einwohnerzahl von Lugano, grösste Stadt im Tessin.

Der Kanton Tessin liegt im Südzipfel der Schweiz und südlich des Alpenhauptkamms. Er ist der einzige italienischsprachige Kanton der Schweiz. Hauptstadt ist Bellinzona.

Zusammen mit den vier südlichen Tälern Graubündens Misox, Calanca, Bergell und Puschlav bildet der Kanton Tessin die italienischsprachige Schweiz.

Die offizielle Amtssprache im Tessin ist Italienisch, auch wenn in einigen Dörfern, insbesondere im Locarnese, viel Deutsch, beziehungsweise Schweizerdeutsch zu hören ist. Dies liegt an einem hohen Anteil Zugezogener aus der Deutschschweiz und an der Präsenz von Touristen.

Das Tessin hat eine vielfältige Landschaft, die von lieblichen Seen mit Palmen (Lago Maggiore; Luganer-See) über spektakulär-wilde Täler bis zum kargen Gotthard-Massiv und Gletschern (Basodino, Rheinwaldhorn) reicht.

Das Tessin zählt 324’851 Einwohner, davon 81’606 Ausländer (25%).

Die grösste Ausländergemeinschaft stellen die Italiener dar (46’452), gefolgt von Portugiesen (9209) und Serben (5259). Danach folgen die Deutschen (3460), deren Zahl in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen ist (Stand: 31. Dezember 2006).

Die Bundesrepublik Deutschland unterhält in Lugano ein eigenes Honorarkonsulat in einem schönen Palazzo im Herzen der Stadt (Via Soave 7). Honorarkonsulin für Deutschland ist die Anwältin Bianca Maria Brenni Wicki.

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