
Digitale Menschenrechte made in Switzerland

Zwei Schweizer Kantone haben in den letzten Jahren neue verfassungsrechtliche Schutzmassnahmen für das Online-Zeitalter eingeführt, von denen Aktivist:innen in anderen Teilen der Welt nur träumen können. Was ist das Recht auf «digitale Integrität» und kann es über die Schweiz hinaus als Vorbild dienen?
Von Datenmissbrauch bis hin zu Deepfakes – das digitale Zeitalter gleicht einem Minenfeld neuer Bedrohungen. Und wenn online etwas schief geht, ist es oft nicht einfach, Wiedergutmachung zu erhalten. Selbst in vergleichsweise gut geschützten Orten wie der Europäischen Union (EU) verfügen nicht alle über das nötige Know-how, um vor Gericht genau darzulegen, wie ihre Daten missbraucht wurden. Oft fehlt auch das Wissen darüber, wie man sich überhaupt schützen kann.
Alexis Roussel, ehemaliger Präsident der Schweizer Piratenpartei, hat sich zum Ziel gesetzt, dies zu ändern.
«Die Idee der ‹digitalen Integrität› besteht darin, die Beweislast umzukehren», erklärt Roussel, der dieses Konzept vor mehr als zehn Jahren entwickelt hat. Statt auf unserem Status als Dateneigentümer sollten digitale Rechte auf unserem Status als Person basieren, argumentiert er – in diesem Fall könnten Ansprüche auf dem Schaden basieren, der uns als Person zugefügt wurde.
«Dies würde die Vision einer digitalen Gesellschaft ermöglichen, in der der Mensch respektiert wird – einer humanistischen digitalen Gesellschaft», sagt er.

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Eine stille Revolution
Die Idee klingt einfach, ist aber im Grunde radikal. Seit den Anfängen des Internets gab es immer wieder idealistische Vorschläge für neue Rechte im Netz – eine «digitale Magna CartaExterner Link» oder eine «Allgemeine Erklärung der Rechte des menschlichen GeistesExterner Link» zum Beispiel. In der Realität sind die Grundrechte jedoch weitgehend unverändert geblieben. Vielfach herrscht die Auffassung vor, dass «die gleichen Rechte, die die Menschen offline haben, auch online geschützt werden müssen». Die Regulierungsbemühungen sind in der Regel konkret und politisch motiviert, wie etwa das Gesetz über digitale DiensteExterner Link der EU oder das jüngste kalifornische GesetzExterner Link über die Verwendung des eigenen Bildes im Internet.
In der Schweiz ist es Roussel jedoch gelungen, mit Hilfe des föderalen und direktdemokratischen politischen Systems eine Art Mini-Revolution für digitale Rechte auszulösen. Die Piratenpartei schaffte zwar nie den Einzug ins Schweizer Parlament, konnte aber auf regionaler Ebene, unter anderem durch Volksabstimmungen, die Politik des Landes beeinflussen.
In den letzten beiden Jahren haben die Bürger:innen von Genf (im Juni 2023) und Neuenburg (im November 2024) dafür gestimmt, die digitale Integrität in ihre Kantonsverfassungen aufzunehmen und sie neben die bestehenden Rechte auf körperliche und geistige Unversehrtheit zu stellen. In beiden Fällen sprachen sich überwältigende Mehrheiten von über 90 Prozent dafür aus – eine Seltenheit bei Schweizer Abstimmungen. Selbst die politischen Parteien waren sich fast einig.
Auch in anderen Kantonen, darunter Basel-Stadt, gibt es inzwischen Interesse; in Zürich hat die Piratenpartei die für eine Volksabstimmung notwendigen 6.000 Unterschriften weit übertroffen. «Selbst mit meinem schlechten Deutsch haben die Leute links, rechts und in der Mitte unterschrieben», sagt Roussel, der heute für die Datenschutz-Softwarefirma Nym arbeitet.

Und während sich die Idee der digitalen Integrität im ganzen Land ausbreitet, kommen neue Elemente hinzu.
Die Versionen in GenfExterner Link und NeuenburgExterner Link beispielsweise definieren sie als etwas, das Dinge wie das Recht, online vergessen zu werden, das Recht, dass die eigenen Daten nicht missbraucht werden, und das «Recht auf ein Offline-Leben» umfasst – was garantiert, dass staatliche Dienstleistungen nie zu 100 Prozent digital werden sollten. Die in Zürich vorgeschlagene Fassung geht noch weiter: Sie enthält die Rechte, «nicht von einer Maschine beurteilt» und «nicht verfolgt, gemessen oder analysiert» zu werden.
Wie weit das gehen kann und was genau dadurch geschützt wird, werde sich im Laufe der Zeit zeigen, sagt Alexander Barclay, der kantonale Delegierte für digitale Politik in Genf. «Wie andere Arten von Menschenrechten wird sich auch die digitale Integrität weiterentwickeln, wenn Richter sie vor Gericht auslegen», sagt Barclay, der an der Ausarbeitung der Genfer Version beteiligt war. Im Moment findet er es aber gar nicht schlecht, dass es ein etwas offenes Konzept bleibt: «Die Technologie und die Welt verändern sich so schnell», sagt er. «Man möchte ein solches Konzept nicht wirklich auf eine starre, detaillierte Definition festlegen.»

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Barclay sagt auch, dass es «völlig legitim» sei, das Recht auf Verfassungsebene zu verankern, auch wenn dies bedeute, dass es einen Teil seiner Konkretheit in Form spezifischer Gesetze oder Vorschriften verliere.
Dieser grundlegende Status helfe, die digitalen Rechte auf eine «höhere normative Ebene» zu heben. Dies könne einen Mentalitätswandel auslösen, was bei einem normalen Gesetz nicht der Fall wäre. Im Fall von Genf umfasst das übergeordnete Konzept der «digitalen Integrität» auch Elemente von Gesetzen, die bereits in der traditionellen Gesetzgebung verankert sind – einschliesslich einer bereits bestehenden Richtlinie, nach der öffentliche Dienstleistungen sowohl online als auch offline verfügbar sein müssen.

«Mehr symbolisch als nützlich»?
Über die Notwendigkeit sind sich nicht alle einig.
Florence Guillaume, Rechtsprofessorin an der Universität Neuenburg, erklärt, dass die Situation auf zwei Arten betrachtet werden kann. Die erste besteht darin, die Online-Rechte einfach als Erweiterung des Grundrechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit zu betrachten. In diesem Fall kann die «digitale Integrität durch die Anwendung bestehender Gesetze geschützt werden». Die zweite Sichtweise bestehe darin, die digitale Welt als einen Ort mit «spezifischen Herausforderungen» und «eigenen Regeln und Dynamiken, insbesondere in Bezug auf Reputation, Identität und Datenschutz» zu sehen – in diesem Fall sei ein neues Grundrecht erforderlich.
Guillaume vertritt die zweite Ansicht und unterstützt daher die Idee eines Rechts auf digitale Integrität. Ihren Kollegen Pascal Mahon überzeugt das wenig. Seiner Ansicht nach sind allgemeine Verletzungen der digitalen Integrität bereits durch Artikel 10 der Bundesverfassung («Recht auf Leben und persönliche Freiheit») abgedeckt, wie er der Neuen Zürcher Zeitung sagte.
Auch die Bundesparlamentarier:innen in Bern sind skeptisch. Ein Antrag auf eine Verfassungsänderung wurde 2023 deutlich abgelehnt, weil eine Mehrheit die geltenden Rechtsnormen für ausreichend hielt. Ein neues Recht wäre «mehr symbolisch als nützlich», argumentierte der freisinnige Parlamentarier Damien Cottier – ein Punkt, den auch die Zürcher Kantonsbehörden aufgriffen, die zudem davor warnten, kostspielige Parallelstrukturen aufbauen zu müssen, um sicherzustellen, dass öffentliche Dienstleistungen sowohl online als auch offline verfügbar bleiben.
Ein Spiegel des Föderalismus
Wie auch immer die Abstimmung in Zürich in den nächsten Jahren ausgehen wird, der Trend ist klar. Wenn die digitale Integrität eine «Revolution» darstellt, dann ist es eine kantonale – und bisher auf progressivere städtische Gebiete beschränkte. Auf nationaler Ebene, so schätzt Guillaume, wird der Ansatz, «Lücken in der bestehenden Gesetzgebung zu schliessen» wahrscheinlich durch gezielte Anpassungen der Bundesgesetze weitergeführt; eine Verfassungsänderung sieht sie nicht kommen.
Insofern spiegelt die Entwicklung der Idee das politische System der Schweiz wider: Der Föderalismus gibt den Kantonen eine gewisse Autonomie; und die direkte Demokratie gibt den Bürger:innen die Möglichkeit zu entscheiden, wie sie diese Autonomie nutzen wollen. Ideen, die auf nationaler Ebene blockiert werden, können auf einer niedrigeren Ebene Erfolg haben.
Macht es die Revolution weniger glanzvoll, dass sie sich auf eine Handvoll Kantone in einem relativ kleinen Land beschränkt?
Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, aber auch wenn nur zwei Kantone ein solches Verfassungsrecht haben, ist die Schweiz in dieser Hinsicht «weit voraus», meint Elise Degrave, Rechtsprofessorin an der Universität Namur in Belgien. Degrave plädiert ihrerseits dafür, ein ähnliches, aber spezifisches Recht – das Recht, offline zu bleiben – in der Verfassung zu verankern. Aufgrund der Struktur des politischen Systems ihres Landes beschränkt sich ihr Engagement jedoch auf eine wissenschaftliche Arbeit, ein Buch und einen offenen Brief an die EU-Institutionen in Brüssel. Sie hat nicht die Möglichkeit, eine Volksinitiative zu starten, wie es die Piratenpartei in Zürich getan hat.
Andernorts gibt es nur vereinzelte Bestrebungen zur Einführung solcher Rechte. In Deutschland beispielsweise setzt sich die NGO Digitalcourage derzeit mit einer Petition für eine Verfassungsklausel ein, die es verbietet, «Menschen bei der Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen zu benachteiligen, wenn sie ein bestimmtes Gerät oder eine bestimmte digitale Plattform nicht nutzen». Bisher wurden rund 40’000 Unterschriften gesammelt.
Auch in Deutschland hatte die Piratenpartei vor der Bundestagswahl im Februar 2025 einen Aufruf zur digitalen UnversehrtheitExterner Link in ihr Wahlprogramm aufgenommen, erhielt aber am Ende weniger als 0,1 Prozent der Stimmen. Ihre Schwesterpartei in der französischen Stadt Strassburg war zumindest auf kommunaler Ebene erfolgreicher, wo die Abgeordneten im Dezember 2024 einen AntragExterner Link annahmen, der direkt von den Schweizer Beispielen inspiriert war.

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Genf, Neuenburg und – vielleicht – Zürich als Vorreiter für digitale Rechte auf regionaler Ebene? Aktivist Roussel, Digitalexperte Barclay und Rechtsprofessorin Guillaume gehen noch einen Schritt weiter. Sie alle sind sich einig, dass die Idee der digitalen Integrität nicht nur auf kantonaler oder nationaler, sondern auch auf supranationaler Ebene umgesetzt werden sollte.
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Aber die Idee «hat ihren Platz in den wichtigsten internationalen Rechtstexten zum Schutz der Menschenrechte», sagt Guillaume.
Editiert von Benjamin von Wyl/sb; Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

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