Bevölkerung soll an Nationalhymne feilen
Die Schweiz hat sich in den letzten Jahren mit der Idee einer neuen Nationalhymne auseinandergesetzt. Ein Stück Schweizer Geschichte auszuwechseln oder zu modernisieren, ist aber nicht einfach. Die Organisatoren des jüngsten Wettbewerbs hoffen, ein Lied zu finden, das Schweizer und Schweizerinnen mit Stolz singen würden.
Lieder, die von Ländern als Nationalhymnen ausgewählt werden, «beinhalten oft faszinierende Geschichten, und gewisse illustrieren die Politik der Staaten besser als irgendetwas sonst», erklärt der britische Journalist Alex Marshall, der ein Buch über Nationalhymnen schreibt. Für seine Recherchen ist er viel herumgereist.
«Ich habe von Premierministern über maoistische Führer bis hin zu Fussballstars und Musikern alles getroffen. Am interessantesten waren aber meine Gespräche mit Leuten auf der Strasse, denn sie sind es, die diese Lieder täglich singen oder auch nicht singen, weil sie finden, dass dies nur eine Zeitverschwendung wäre», sagt Marshall.
swissinfo.ch befragte Schweizer Bürgerinnen und Bürger über deren Meinung zur Landeshymne. Die Antworten waren breit gefächert:
«Ich finde sie altmodisch. Und sie ist wirklich schwer zu verstehen.»
«Sie ist wunderbar und ich mag sie!»
«Im Vergleich mit Hymnen anderer Staaten ist sie etwas traurig.»
«Die Nationalhymne? Die ist wertlos.»
«Sie ist in Ordnung, aber ich kann sie nicht singen.»
«Ich schlafe praktisch ein, wenn ich sie singe.»
Die Nationalhymne zu mögen, ist eine Sache. Sie zu kennen und auch singen zu können, eine andere.
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Schweizer singen die Landeshymne
Im Jahr 2000 ergab eine Umfrage in der Deutschschweiz und in der Romandie, dass nur gerade 3% der Schweizer Staatsangehörigen alle vier Strophen singen konnten. Weniger als ein Drittel konnte den ersten Teil singen.
«Nach den ersten 30 Wörtern fängt man an, ‹la, la, la› zu singen», erklärt Pierre Kohler. Dies sei ein Grund für den öffentlichen Wettbewerb, mit dem 2014 eine neue Hymne gefunden werden soll, die besser zur Schweiz des 21. Jahrhunderts passen soll. Kohler ist einer der Jury-Präsidenten für die Gruppierung, welche die Idee lanciert hat, die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft mit Sitz in Zürich.
Die Ambivalenz, die Schweizer und Schweizerinnen gegenüber ihrer Nationalhymne haben, ist nichts Neues. Die Notwendigkeit einer Landeshymne wurde in der Tat von Anfang an hinterfragt. Es brauchte 140 Jahre, bis die Schweizer die ursprünglich deutschsprachige Hymne annahmen, und auch dann nur ungern.
Der Text des «Schweizer Psalms» war ursprünglich ein patriotisches Gedicht in Deutsch, geschrieben 1841 vom Zürcher Musikverleger und Lyriker Leonhard. Widmer bat den Priester und Komponisten Alberik Zwyssig, das Gedicht zu vertonen. Zwyssig schuf jedoch kein neues Stück, sondern verwendete eine Hymne, die er früher schon für einen Psalm komponiert hatte.
Ziemlich rasch wurde der Text der deutschen Hymne dann in die anderen drei Landessprachen – Französische (Charles Chatelanat), Italienisch (Camillo Valsangiacomo) und Romantsch (Flurin Camathias) – übersetzt, so dass sie von Chören in der ganzen Schweiz gesungen werden konnte.
Zwischen 1894 und 1953 wurden zahlreiche Versuche, die Hymne zur Landeshymne zu erklären, abgelehnt. Der Grund? Die Schweizer Regierung hatte wiederholt erklärt, der Entscheid sollte auf der Meinung der Öffentlichkeit fussen, nicht auf einem Dekret der Regierung.
Erst 1961 – 120 Jahre, nachdem er entstanden war – wurde der Psalm vorläufig zur Landeshymne ernannt. Offiziell geschah dies schliesslich am 1. April 1981.
Jahrzehntelange Unzufriedenheit
Doch viele Schweizer und Schweizerinnen konnten sich nie wirklich für die Landeshymne erwärmen, die der Organisator eines früheren Wettbewerbs mit einem «Wetterbericht» verglichen hatte, mit all den Referenzen auf Sonnenuntergänge, Sterne und Morgenrot.
2004 brachte die Berner Nationalrätin Margret Kiener Nellen eine Motion ein, mit der die Regierung aufgefordert wurde, eine neue Landeshymne erarbeiten zu lassen, da die aktuelle ihrer Ansicht nach unter anderem überholt und zu gebetsartig ist, sowie die Gleichstellung von Mann und Frau nicht berücksichtigt.
Mit einem Blick voraus ins Jahr 2008, wenn die Schweiz Gastgeberin der Fussball-Europameisterschaften sein würde, sagte Kiener Nellen damals: «Stellen Sie sich die Eröffnung der Euro 2008 vor, und das Schweizer Fussball-Nationalteam, das mit halbgeschlossenem Mund dort stehen wird, während die Landeshymne gespielt wird.»
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Ohne Worte
Kieners Motion wurde abgelehnt, was vielen als Beweis galt, dass die Originalversion der Landeshymne im Parlament gewisse Unterstützung hatte. Eine von einer anderen Abgeordneten ein paar Jahre darauf eingebrachte Motion, die verlangte, dass die Mitglieder des Nationalrats die Landeshymne vier Mal jährlich singen sollten – jeweils zur Eröffnung der Session –, wurde jedoch ebenfalls abgelehnt.
«Die Hymne wird in erster Linie am Nationalfeiertag, bei Sportveranstaltungen oder bei militärischen und politischen Repräsentationsanlässen gespielt», heisst es im Protokoll des Nationalrats. Man sei sich der «kulturellen Bedeutung und der identitätsstiftenden Rolle der Landeshymne» bewusst. «Die Mehrheit des Büros ist jedoch der Meinung, dass das Singen der Hymne nicht institutionalisiert werden soll.»
Nochmals ein Jahr darauf wurde schliesslich eine weitere Motion angenommen: Diese verlangte, dass die Landeshymne zu Beginn jeder neuen Legislatur gespielt wird, den Ratsmitgliedern steht es jedoch frei, ob sie mitsingen wollen oder nicht.
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Die ersten drei Strophen auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Romanisch
Ein weiterer Wettbewerb beginnt
Bei einer Feier zum 1. August 2013 gab die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) bekannt, sie wolle der Suche nach einer neuen Landeshymne mit einem Wettbewerb Leben einhauchen.
Eine der Anforderungen für die neue Landeshymne ist, dass sie Sinn und Geist (wie Freiheit, Demokratie, Neutralität, Frieden in Solidarität) der Präambel der neuen Schweizer Bundesverfassung von 1999 wiedergeben soll. Zudem soll die Melodie der neuen Hymne an jene der aktuellen Hymne erinnern.
Teilnehmer und Teilnehmerinnen müssen drei Strophen in einer der vier Landessprachen einreichen. Der Text muss die Werte, beziehungsweise Sinn und Geist der Präambel der Schweizer Bundesverfassung von 1999 reflektieren. Die Melodie der heutigen Hymne muss erkennbar bleiben. Es muss auch eine Audioversion mit Text und Musik eingereicht werden.
Bewerbungsdossiers können bis zum 30. Juni 2014 eingereicht werden. Der Wettbewerb findet anonym statt, die Jurymitglieder werden nicht wissen, von wem die Wettbewerbsbeiträge kommen. Die Jurymitglieder kommen aus allen vier Sprachregionen, und werden die eingereichten Beiträge in ihren jeweiligen Muttersprache beurteilen.
Insgesamt kommen 10 Beiträge in die engere Auswahl, die in alle vier Landessprachen übersetzt werden, bevor schliesslich der Gewinner ausgewählt wird. Die 10 Beiträge aus der engeren Auswahl werden ein Preisgeld zwischen 1000 und 10’000 Franken erhalten.
Die neue Hymne solle singbar sein, angenehm für das Gehör und einfach zu lernen, erklärt SGG-Direktor Lukas Niederberger. Der Text kann in einer der vier Landessprachen eingereicht werden. Es sei auch möglich, einen Text zu kreieren, der in verschiedenen Sprachen gleichzeitig gesungen werden könnte.
«Wir können das tun, jeder singt in seiner eigenen Sprache», sagt Oscar Knapp, Präsident der SRG SSR Svizra Rumantscha und Koordinator der rätoromanischsprachigen Wettbewerbs-Jury (Knapp ist auch Mitglied des SRG-Ausschusses, der für die Aufsicht über swissinfo.ch zuständig ist). Ein solcher Ansatz sei für Auslandschweizer ganz normal, sagt er.
Internationale Attraktivität
Laut Niederberger stösst das Wettbewerbs-Projekt im Ausland auf viel Interesse. «Sie fragen uns: ‹Wie kommt es, dass eine Institution der Zivilgesellschaft sich wagt, eine neue Landeshymne zu suchen?'»
In anderen Ländern glaube man vor allem, dass ein solcher Vorstoss von einem Kulturminister oder Staatschef lanciert werden müsste, sagt Niederberger. Doch in der Schweiz hat das Volk die grösste Autorität. Er bezeichnet den Wettbewerb denn auch als ein sehr schweizerisches Projekt, «währschaft und von unten nach oben».
Es ist auch ein sehr egalitäres Projekt. Man muss nicht einmal das Schweizer Bürgerrecht haben oder in der Schweiz leben, um am Wettbewerb für eine neue Landeshymne teilzunehmen.
Den Test der Zeit bestehen
Der Vorschlag, der als Gewinner aus dem Wettbewerb hervorgeht, soll der Schweizer Regierung 2015 oder 2016 präsentiert werden. Was sie dann damit macht, steht ihr frei.
Und falls wirklich eine neue Landeshymne angenommen wird, wird sie künstlerisch wertvoll, literarisch und zeitlos sein? «Das wissen wir nicht», sagt SGG-Präsident Jean-Daniel Gerber. «In zehn Jahren wird man sehen können, ob dieser Text und diese Melodie eine lang andauernde Wirkung entfalten können. Aber wir zielen darauf hin.»
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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