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Die Schwarze Spinne: Horror “made in Switzerland”

Scene of Black Spider
Die neueste Verfilmung von "Die schwarze Spinne" kehrt die reaktionären und frauenfeindlichen Elemente der Romanvorlage aus dem 19. Jahrhundert um. Elite Films AG

Jeremias Gotthelfs Novelle "Die schwarze Spinne" von 1842 ist ein Klassiker der Schweizer Literatur – und ein seltenes Beispiel für Horror made in Switzerland. Der Kino- und Literaturkritiker Alan Mattli fragt sich, ob eine neue Verfilmung dem Werk zu internationalem Durchbruch verhelfen kann. 

Wussten Sie, dass die Schweiz der Geburtsort des Horror-Genres ist, wie wir es heute kennen? Die Rolle der Schweiz war zwar eher passiv und hat diese Ehre teils klimatologischen Zufällen zu verdanken. Trotzdem entstanden hier Horror-Ikonen, die bis heute nachwirken. 

1816 verbrachten die jungen Mary und Percy Shelley die Sommermonate an den Ufern des Genfersees, untergebracht bei dem Dichter Lord Byron und seinem Freund John Polidori. 

Da das schlechte Wetter – die Folge eines vulkanischen Winters, verursacht durch den Ausbruch des Tambora in Indonesien im Jahr zuvor – das Quartett von Aktivitäten im Freien abhielt, erzählten sich diese Geistergeschichten: Mary Shelley präsentierte die Grundzüge ihres bahnbrechenden Science-Fiction-Romans “Frankenstein”, während Byrons Überlegungen über Vampire später als Inspiration für Polidoris Erzählung “Der Vampyr” aus dem Jahr 1819 dienen sollten, die ihrerseits ein späterer Bezugspunkt für die Vampirlegenden des 19. Jahrhunderts war – einschliesslich Bram Stokers Meisterwerk “Dracula” von 1897. 

Sowohl Graf Dracula als auch Frankensteins Monster wurden also sozusagen in der Schweiz geboren und verschafften dem Land damit einen Ehrenplatz in den Annalen des Horrors. Im öffentlichen Bewusstsein blieb das weitgehend unbemerkt, denn in der Zwischenzeit wurden die grossen Gruselgeschichten anderswo geschrieben. Von Shelley und Ann Radcliffe in England, von Edgar Allan Poe in den Vereinigten Staaten, von E. T. A. Hoffmann in Deutschland, vom Marquis de Sade in Frankreich und von anderen so genannten Gothic- und Horror-Autor:innen des neunzehnten Jahrhunderts. 

In der Schweizer Literatur des 19. Jahrhunderts dominierte dagegen der nüchterne Realismus: Die Alltagsgeschichten von Gottfried Keller und die historischen Erzählungen von Conrad Ferdinand Meyer. Aber auch wenn die Schweiz ein unwahrscheinlicher Herkunftsort für Horror-Ikonen zu sein scheint, so gibt es doch eine gotische Schattenseite dieses vermeintlich urigen schweizerisch-deutschen Realismus – eine, die ausserhalb der Grenzen des deutschsprachigen Europas nur selten gewürdigt wird. 

Poster of The Black Spider
Plakat zu “Die schwarze Spinne”: Moderner Schweizer Horrorfilm basierende auf mittelalterlicher Architektur, dämonischen Erscheinungen, einem faustischen Pakt und einer höllischen, übernatürlichen Plage. © Keystone / Christian Beutler

Eine Warnung vor dem Bösen 

Hier kommt der Schriftsteller und evangelische Pastor Albert Bitzius, besser bekannt unter seinem Pseudonym Jeremias Gotthelf, ins Spiel. Er wurde 1797 geboren und gilt zusammen mit seinen jüngeren Kollegen Keller und Meyer allgemein als die wichtigste literarische Figur der Schweiz im 19. Jahrhundert. Er war spezialisiert auf realistische Berichte über das ländliche Leben in seiner Heimat im Berner Emmental, geschrieben in einer spielerischen Melange aus hochdeutscher Grammatik und regionalem Dialekt. 

Und es ist sein nachhaltigstes Werk, die Novelle “Die schwarze Spinne” von 1842, die uns ein seltenes Beispiel für Gothic-Horror aus der Schweiz liefert. 

Natürlich ist es fraglich, ob Gotthelf selbst dieser Einschätzung zustimmen würde. Umrahmt von einem humoristischen ländlichen Realismus, der die logistischen Herausforderungen einer Taufe in den 1840er Jahren in der Emmentaler Ortschaft Sumiswald schildert, hat die Novelle die didaktische Struktur und den strengen Moralismus einer allegorischen christlichen Predigt: Sie ist im Wesentlichen pastorale Propaganda – eine Warnung vor bösen Versuchungen und eine Illustration der transzendentalen Kraft der göttlichen Hingabe. 

Doch die Methoden von Gotthelfs Religionsunterricht sind von gotischen Elementen durchdrungen. Die Hauptgeschichte, die 600 Jahre früher spielt, zeichnet sich durch beunruhigende mittelalterliche Architektur, dämonische Erscheinungen, einen faustischen Pakt und eine höllische übernatürliche Plage aus. 

Die Menschen im Sumiswald des 13. Jahrhunderts werden von ihrem Lehnsherrn, einem launischen Ritter des Deutschen Ordens, damit beauftragt, eine schattige Allee zu seiner Burg zu bauen. Der Teufel verspricht den Dorfbewohnern, die zermürbende Arbeit für sie zu verrichten – wenn sie ihm ein ungetauftes Kind ausliefern. 

Während diese zu viel Angst haben, dem Geschäft zuzustimmen, nimmt die deutsche Einwandererin Christine es auf sich, Sumiswald vor dem Zorn des Ritters zu schützen und besiegelt den Handel mit einem Kuss. Der Teufel hält sein Wort, aber die Dorfbewohner:innen versuchen prompt, ihn zu überlisten: Sie beschliessen, von nun an jedes neugeborene Kind sofort zu taufen. 

Das lässt der Teufel nicht auf sich sitzen: Almählich bildet sich auf Christines Stirn ein satanisches Mal – in Form einer Spinne. Nach einer weiteren Taufe bricht das Zeichen in einem meisterhaften Moment grausigen Körperhorrors endlich auf. Eine Masse von Spinnen sprudelt aus ihrem Gesicht hervor, die das gesamte Vieh von Sumiswald tötet – und die ein Vorbote der schwarzen Spinne des Romantitels und der pestähnlichen Verwüstung ist, die sie anrichtet. 

Theater version of The Black Spider
Georg Mitterstieler und Friederike Pöschel (als Christine) während der Hauptprobe Erich Sidlers Inszenierung von “Die schwarze Spinne” 2007 im Stadttheater Bern. ©annette Boutellier

Anpassungsschwierigkeiten 

“Die Schwarze Spinne” findet ihren Schrecken in der Mischung aus Volkserinnerung – dem kulturellen Nachhallen vergangener Epidemien – und einer glühenden christlichen Geschichte, die die Leser:innen warnend an die Hölle erinnert. Diese lauert, sollte eine Gemeinschaft auch nur den geringsten Mangel an religiösem Engagement vorweisen. 

Die Geschichte hat sich im Laufe der Jahre als immun gegen eine allgemein zugängliche Adaptionen erwiesen. Das könnte auch der Grund dafür sein, dass sie bisher Schwierigkeiten hatte, die Sprachgrenzen zu überwinden. 

Während Gotthelfs zweiteiliger Bildungsroman “Uli der Knecht” (1841) und “Uli der Pächter” (1849) von Regisseur Franz Schnyder in den 1950er Jahren zu Klassikern des Schweizer Kinos adaptiert wurde, verlief die Reise der “Schwarzen Spinne” durch verschiedene Medien weniger gradlinig. 

Es gibt eine Handvoll Bühnenadaptionen – zuletzt ein von Frank Castorf inszeniertes Mash-up mit Mikhail BulgakovsExterner Link “Der Meister und Margarita” – sowie mehrere Hörspiele, einen Film von 1983 und einen weiteren von 2022, der vollständig im Sumiswald der 1250er Jahre spielt und derzeit in Schweizer Kinos läuft. 

Scene from the opera The Black Spider
2007 wurde “Die schwarze Spinne” im Theater St. Gallen als Oper aufgeführt. Keystone / Regina Kuehne

Von theologisch zu psychologisch

Laut Barbara Sommer, welche die Version von 2022 mitverfasst hat, steht Gotthelfs Weltbild in vielerlei Hinsicht gegensätzlich zum modernen Geschmack. “Uns ist aufgefallen, dass man die Geschichte heute nicht mehr so erzählen kann, wie sie damals geschrieben wurde. Aus heutiger Perspektive hat dieser Ursprungstext einen reaktionären Charakter”, sagt sie.

Sie bezieht sich vor allem auf die misstrauische Ausländerin Christine, die im Originaltext als willensschwache Komplizin des Satans dargestellt wird und wie die biblische Eva aus gottloser Kurzsichtigkeit der Versuchung nachgibt. 

Die Herausforderung, der sich Sommer und Co-Autor Plinio Bachmann stellten, bestand darin, “die Geschichte in der historischen Situation zu belassen, aber trotzdem so zu adaptieren, dass sie für uns heute eine richtige Aussage bekommt und lesbar und interessant wird”.

Im Gegensatz zu Mark Rissis äusserst erfolgreichem Film von 1983 – einer einfachen Nacherzählung, die nur deshalb bemerkenswert ist, weil sie Gotthelfs pastorale Rahmenerzählung durch einen Kurzfilm über vier Jugendliche ersetzt, die Heroin auftreiben wollen – versucht “Die Schwarze Spinne” von 2022, Christines Rolle mehr Komplexität zu geben.

In Sommers und Bachmanns Version wird der Pakt mit dem Teufel als Akt der Zivilcourage dargestellt. Die Schrecken, die Sumiswald dadurch widerfahren, ähneln einer Säuberung der frauenfeindlichen Bigotterie des Dorfs.

“Ich finde, wir sind ziemlich nahe an Gotthelf. Wir haben einfach ein paar wesentliche Akzente verschoben”, sagt Bachmann. “Die Verhandlung von Gut und Böse ging vom Theologischen ins Psychologische.” Regisseur Markus Fischer fasst es so zusammen: “Gotthelf ist da drin, aber es ist ein neuer Gotthelf.”

Fischers “schwarze Spinne” ist eine schweizerisch-ungarische Koproduktion, die in Hochdeutsch gedreht wurde und eine Besetzung aus namhaften Schauspieler:innen aus der Schweiz und Deutschland zeigt. Doch es bleibt fraglich, ob sie die ganze Welt auf die gotischen Seiten von Gotthelfs Novelle aufmerksam machen kann.

Denn in dieser Version werden nicht nur die aussergewöhnlichen übernatürlichen Elemente des Buchs heruntergespielt und in ein eher konventionell erzähltes historisches Drama eingebettet. Sie zeigt auch kein explizites Interesse daran, die Neugier auf das Ausgangsmaterial zu fördern, denn sie wurde von und – vielleicht unbeabsichtigt – für Menschen gemacht, denen Gotthelf instinktiv ein vertrauter Name ist. Was auch immer der Grund sein mag: Es scheint, dass die Rolle der Schweiz in der Geschichte des Horror-Genres, zumindest vorläufig, eine passive bleiben wird.

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