Idiotikon – die Sprache kommt und geht
In der Schweiz gibt es sprachlich zwei parallele Trends: Auf der Strasse herrschen die Dialekte vor. In der Schule Schriftdeutsch und Frühenglisch.
Das Deutschschweizer Idiotikon sorgt dafür, dass die Dialektwörter nicht verloren gehen.
Ein Team von Sprachforschern unter der Leitung von Chefredaktor Hans-Peter Schifferle ergründet die Mundart und arbeitet am Schweizer Idiotikon.
Idiotika sind Wörterbücher, die Ausdrücke aus Mundart, Dialekten, aus der Fachsprache und aus verschiedenen sozialen Milieus erläutern. Sie erklären Sprüche, Sagen, Redensarten und Liedtexte. Anhand von Idiotika lässt sich der Lautstand und die Sprachentwicklung dokumentieren und untersuchen.
In den kleinen geographischen Räumen der Schweiz verändern sich die Dialekte unablässig. Die lokalen Eigenheiten und Entwicklungen der Sprache sind nicht nur für die Sprachwissenschafter von Interesse.
Die Veränderungen in den gesprochenen Dialekten dokumentieren Trends in Kultur, Gesellschaft und in der Geschichte des Landes.
Sprache hat keine Eile
Das Schweizer Idiotikon will Weile haben. Die Bestrebungen, ein Wörterbuch der schweizerdeutschen Mundarten zu erstellen, sind fast 140 Jahre alt. Im Jahr 1806 publizierte Pfarrer Franz Joseph Stalder einen zweibändigen «Versuch eines Schweizerischen Idiotikon».
1862 wird der «Verein für das Schweizerdeutsche Wörterbuch» gegründet. Im Lauf der Zeit entstand ein weit verästeltes Netz von Korrespondenten.
1881 erschienen die ersten Bände des Schweizerischen Idiotikons. 125 Jahre später umfasst das Sprachwerk 15 Bände, und die Sprachforscher sind dabei bis zum Buchstaben X vorgedrungen. Das Idiotikon ist auf 15’000 Seiten angewachsen und enthält über 130’000 Stichwörter.
Das Deutschschweizer Idiotikon ist das umfangreichste Regionalwörterbuch im deutschen Sprachraum.
«Die restlichen Buchstaben des Alphabets sollen in den nächsten 15 bis 20 Jahren abgearbeitet und in den Bänden 16 und 17 publiziert werden», erklärt Chefredaktor Hans-Peter Schifferle gegenüber swissinfo. Dazu stehen einhundert Schachteln mit 300’000 Zetteln zur Verfügung.
Sprachdetektive
Die Verarbeitung der Zettel dauere lange, auch im Zeitalter der Computer. «Der Computer ist bei unserer Arbeit nur von beschränkter Hilfe», meint Chefredaktor Schifferle. Die Handzettel in zum Teil altdeutscher Schrift müssten entziffert und aufwändig von Hand verarbeitet werden.
Das Redaktionsteam besteht aus fünf Personen. «Ein Redaktor schafft pro Jahr vielleicht zwei Schachteln», hält Schifferle fest. Jeder Beleg muss auf seine Richtigkeit geprüft werden. Die Redaktoren konsultieren in Archiven schriftliche Quellen und fragen bei Gewährsleuten, Historikern, Volkskundlern, Priestern und Handwerkern nach.
Die Angst vor dem Sprachverlust
Am Ursprung des Idiotikons stand die Angst vor dem Sprachverlust. Friedrich Staub, der erste Chefredaktor des Idiotikons, befürchtete 1862, die schweizerdeutsche Mundart würde vom Hochdeutschen verdrängt.
Die Korrespondenten begannen damals, «unter Beihülfe aus allen Kreisen des Schweizervolkes», Mundartausdrücke aus Stadt, Land und Bergtälern zusammenzutragen.
Systematisch wurden auch die Mundartliteratur bereits vorhandener Dialektwörterbücher, Chroniken, Rechtsprotokolle, Arznei- und Rezeptbücher und religiöse Schriften im Idiotikon erfasst.
Wörter kommen und gehen
Wörter hängen an bestimmten Lebensweisen, an Bräuchen und handwerklichen Tätigkeiten. Wenn diese Tätigkeiten verschwinden, geraten auch die Wörter ausser Gebrauch, die sie beschreiben.
Neue Berufe, Innovationen in Wissenschaft, Technik, Literatur und Kunst schaffen Sprache. Neue Dialektwörter finden ebenfalls Eingang ins Idiotikon, sofern es sich nicht um Eintagsfliegen handelt.
Dialektwörter wie «Guttere» (Flasche), «schüürge» (schieben), «gröönele» (schimmlig werden) oder «nüechtele» (nach Moder riechen) haben es heute in der Umgangssprache schwer.
Im Kommen sind Dialektwörter wie «snöobe» (Snowboard fahren), «tschille» (abhängen) oder «baike» (Fahrrad fahren). Noch ungewiss ist, ob Moderwörter wie «gaga» (irr) oder «raffsch es nöd?» (verstehst du nicht?) Eingang ins Idiotikon finden.
Das Idiotikon, ein fast unbekannter Sprachriese
Das Deutschschweizer Idiotikon ist der breiten Bevölkerung wenig bekannt. Das soll sich ändern: «Wir erhalten von Schulen, Einzelpersonen und Medienleute Anfragen, und wir tragen das Idiotikon mit Vorträgen an die Universitäten und an die Volkshochschule», berichtet Chefredaktor Schifferle.
Eine digitalisierte und interaktive Version des Idiotikons werde es in nächster Zukunft aber nicht geben, erklärt Schifferle. «Das liegt bei unserem Budget nicht drin.»
swissinfo, Erwin Dettling
1806 wurde das erste schweizerdeutsche Mundart-Wörterbuch erstellt.
1881 erschienen die ersten Bände des Schweizerischen Idiotikons.
Heute umfasst das Sprachwerk 15 Bände.
Die beiden letzten Bände 16 und 17 sollen in den nächsten 15 bis 20 Jahren folgen.
Idiotika gibt es auch in den anderen drei Landessprachen (Französisch, Italienisch, Romanisch).
Alle Projekte werden von der schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften als Trägerin der nationalen Wörterbücher koordiniert.
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