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Willy Spiller: Er fotografierte in einer der gefährlichsten U-Bahnen der Welt

Ende der 1970er-Jahre beschloss der Schweizer Fotojournalist Willy Spiller, sich einen Traum zu erfüllen und nach New York zu ziehen. Seine Faszination für die New Yorker U-Bahn resultierte in einer Ausstellung und dem Fotobuch Hell on Wheels, das jetzt neu aufgelegt wird.

Ende der 1970er, Anfang der 1980er-Jahre befand sich New York City in einem Zustand des Verfalls. Die damals als “Fear CityExterner Link” (Angst-Stadt) bekannte Metropole inspirierte zahlreiche Science-Fiction-Dystopien wie Escape from New YorkExterner Link (1981). Willy Spiller begab sich in diese Stadt und dokumentierte fotografisch den Alltag der New Yorker:innen im damals gefährlichsten U-Bahn-System der Welt.

Die Kriminalität war hoch und es ereigneten sich in der New Yorker U-Bahn jede Woche mindestens 250 schwere Verbrechen. Die 2300 Polizist:innen, die im Netz patrouillierten, reichten niemals aus.

Aber es war auch eine Stadt, die unter den Schwingungen der Underground-Kunst (wortwörtlich: Graffiti war der letzte Schrei und wurde gewaltsam unterdrückt) und der Musik lebte. Es war eine Zeit, in der Disco, Punk, New Wave, Post-Punk, Funk und eine aufkeimende Hip-Hop-Szene in den chaotischen Strassen der Stadt nebeneinander existierten.

New York war damals auch Schauplatz von Kultfilmen wie Saturday Night Fever, mit dem John Travolta berühmt wurde oder Martin Scorseses Taxi Driver.

Spiller sagt gegenüber SWI swissinfo.ch, er habe die Schweiz zum richtigen Zeitpunkt verlassen. Für ihn war die Atmosphäre des allgemeinen Verfalls der grosse Reiz der amerikanischen Millionenstadt.

Er hatte alles, was er brauchte: die Ausrüstung, einen Pressefotografenausweis der Neuen Zürcher Zeitung (für die er als freier Reporter arbeitete) und eine Wohnung im 24. Stock an der Broadway Avenue mit Blick auf Manhattan. Was ihn aber am meisten inspirierte, war der Blick von unten.

Die Ära der analogen U-Bahn

Damals, erinnert sich Spiller, hatte niemand ein Handy dabei – die Menschen lasen Bücher, Zeitungen und schauten sich in der U-Bahn gegenseitig an. Er fuhr ohne Plan durch New York – die Fotos in der U-Bahn waren zufällig. Das Licht in jeder U-Bahn und in jeder Station war immer anders, und er benutzte einfach den Film, der gerade in seiner Kamera war.

Spiller war es wichtig, seinen Beruf durch seine Kleidung zu repräsentieren – er trug immer Anzug und Krawatte. Die Kleidung der New Yorker mit ihren Jeans, Turnschuhen und T-Shirts war nichts für ihn.

Bei einem seiner Ausflüge wurde er in Harlem von einem Polizisten angehalten: “Sir, es ist nicht Weihnachten”, und fragte ihn, was er hier wolle. “Sie werden ausgeraubt, wenn Sie Anzug und Krawatte tragen und all diese Kameraausrüstung dabeihaben”, sagte der Polizist.

Er hätte den Rat des Polizisten in der Nacht beherzigen sollen, als er beschloss, auf einer Parkbank am Madison Square zu schlafen. Kein Wunder, dass er nur mit seinem Presseausweis aufwachte – seine Kamera und Brieftasche waren weg.

Mit der Neugier eines Fremden dokumentierte Spiller beharrlich seine U-Bahn-Fahrten. Sein Bildtagebuch Hell on Wheels erschien erstmals 1984. Danach nahm seine Karriere Fahrt auf.

Heute gilt er als einer der bedeutendsten lebenden Fotojournalisten der Schweiz. In gewisser Weise hat Spiller eine ähnliche Karriere gemacht wie ein anderer Gigant der Schweizer Fotografie, Robert Frank, der ebenfalls nach der Veröffentlichung seines Bandes The Americans im Jahr 1958 (zuerst in Frankreich und ein Jahr später in den Vereinigten Staaten) berühmt wurde.

Die Ausstellung Hell on Wheels ist noch bis zum 20. Mai in der Bildhalle Zürich zu sehen. Das gleichnamige Buch wurde neu aufgelegt und gestaltet und mit einer Einführung des Schriftstellers und Herausgebers Bill Shapiro versehen.

Willy Spiller schloss 1968 sein Studium der Fotografie an der Hochschule für Gestaltung und Kunst (ZHDK) in Zürich ab. Als Fotojournalist und freier Fotograf arbeitete er während 45 Jahren für führende Publikationen. Für seine Reportagen im In- und Ausland wurde er mehrfach ausgezeichnet.

Editiert von Virginie Mangin und Eduardo Simantob, Übertragung aus dem Englischen: Melanie Eichenberger

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