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Wohnungsnot in der Schweiz: Wie schlimm es wirklich steht

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Die Bautätigkeit in der Schweiz hält mit der Zuwanderung nicht Schritt. Es droht eine Leerstandsquote von unter einem Prozent. Keystone / Christian Beutler

Hohe Zuwanderung, geringe Bautätigkeit: Die Wohnungsnot in der Schweiz spitzt sich zu. Wie prekär ist die Lage und woran entscheidet sich die Zukunft?

Demonstrationen und Kundgebungen mitten im Wohngebiet, wütende, verzweifelte Familien: Proteste wie jene um die landesweit bekannt gewordenen so genannten Sugus-Häuser Ende 2024 hat die Stadt Zürich lange nicht gesehen.

Rund 100 Mietparteien haben hier kurz vor Weihnachten gleichzeitig die Kündigung erhalten. Und die Eigentümerin, eine reiche Erbin, entzieht sich dem Dialog, auch mit der Zürcher Regierung. Längst sind die Sugus-Häuser auch zum Symbol für die Missstände im Schweizer Wohnungsmarkt geworden.

Der Protest gegen die Sugushäuser Anfang Dezember 2024. An einem der Häuser hängt ein Transparent, davor haben sich hunderte Menschen versammelt.
Proteste in Zürich, nachdem kurz vor Weihnachten 2024 rund 100 Mietparteien die Wohnung gekündigt wurde. Keystone / Michael Buholzer

Die Stadt Zürich gilt als schwieriges Pflaster, um eine Wohnung zu finden. Die Leerstandsquote, wichtigster Indikator für die Verfügbarkeit von Wohnraum, betrug hier zuletzt 0,07 Prozent. Es ist der tiefste Wert der Schweiz, ja vermutlich der westlichen Welt.

Die Wohnungskrise in Zürich ist beispiellos. Wie weiter? Wir haben die Verantwortlichen gefragt.

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Wie repräsentativ aber sind die Bilder aus Zürich für die Schweiz? Welche Faktoren bestimmen die Wohnungsnot? Und in welche Richtung geht die Entwicklung? Wir zeigen im Folgenden, was die statistischen Daten und die führenden Expertinnen und Experten dazu sagen.

Herrscht in der Schweiz heute Wohnungsnot?

Die kurze Antwort: Ja und Nein. In der Schweiz betrug die Leerstandsquote zuletzt 1,08 Prozent. Damit gab es über das ganze Land betrachtet knapp keine Wohnungsnot, sondern nur eine Knappheit, sofern man dem Bundesamt für Wohnungswesen folgt, das einen Leerstand von weniger als ein Prozent als Wohnungsnot definiert.

Im internationalen Vergleich aber fällt die Schweiz ab. So lag sie in einer Untersuchung der OECDExterner Link vor zwei Jahren zusammen mit Schweden abgeschlagen am Ende der Leerstandstabelle.

Während sich die Situation in Schweden leicht entspannt hat – mit aktuell 1,3 Prozent LeerstandExterner Link – hat sie sich in der Schweiz weiter zugespitzt. An allen zentralen Lagen liegt die Leerstandsquote deutlich unter einem Prozent.

«Wenn man von den Kleinstaaten absieht, hat die Schweiz heute den geringsten Leerstand in Europa», konstatiert Robert Weinert, Chefanalyst des Beratungsunternehmens Wüest Partner.

Die Schweiz stehe mit ihren Problemen aber nicht allein da. «Städte wie London, Paris oder München sind in der gleichen Situation. An den urbanen Lagen wird in Europa zu wenig gebaut.»

Ein neuer Index des Beratungsunternehmens, der die Wohnungsknappheit in Europa anhand verschiedener Parameter vergleicht, sieht die Schweiz hinter Luxemburg, Norwegen und Irland an vierter Stelle.

Und die Aussichten sind nicht rosig: Der Schweizerische Baumeisterverband setzte just Anfang April eine Warnung abExterner Link: 2025 würden nur 42’000 neue Wohnungen gebaut. Nötig wären gemäss dem Bundesamt für Wohnungswesen deren 50’000. Die logische Folge: Die Leerstandsquote wird unter ein Prozent fallen.

Was sind die Gründe für die Wohnungsnot?

Claudio Saputelli, Leiter Immobilienanalyse bei der Schweizer Grossbank UBS, sagt es so: «Wir haben nicht primär ein Angebotsproblem, wir haben ein Nachfrageproblem.»

Zwar habe eine Phase höherer Kapitalzinsen und die Verteuerung der Baumaterialen sowie der Fachkräftemangel die Neubautätigkeit in den letzten paar Jahren gebremst. Haupttreiber der Wohnungsnot ist aber die Zuwanderung.

Grafik zur Bevölkerungsentwicklung in der Schweiz
SWI swissinfo.ch / Kai Reusser

In der Schweiz mit ihren neun Millionen Einwohnern zogen allein 2024 rund 83’000 Ausländerinnen und Ausländer mehr zu als das Land verliessenExterner Link, die meisten davon Arbeitskräfte aus dem EU-Raum.

Auch in den zehn Jahren zuvor ist die Schweizer Wohnbevölkerung im Schnitt um 0,9 Prozent pro Jahr gewachsen. Damit hat die Neubautätigkeit nicht Schritt gehalten.

Bis 2030 erwartet das Bundesamt für Statistik 9,43 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, bis 2050 sogar 10,44 Millionen. Es ist das mittlere von drei Szenarien, das so genannte Referenzszenario. Ende April wird die Prognose aktualisiert.

Obschon die Zuwanderung leicht zurückgegangen ist und sich die Weltwirtschaft durch disruptive Eingriffe abkühlt, dürfte das Bevölkerungswachstum in der Schweiz anhalten.

Wie prekär ist die Wohnungsnot im historischen Vergleich?

Die aktuelle Situation ist weniger schlimm, als die Schlagzeilen, die Proteste und der internationale Vergleich der Zahlen vermuten liessen.

Denn noch profitiert die Schweiz von einer Erholung des Wohnungsmarkts Ende des letzten Jahrzehnts, als die Zinsen tief waren. Nach einer Phase intensiver Bautätigkeit standen damals schweizweit mehr Objekte leer.

«Vor Corona hatten wir beim Leerstand einen Rekord», sagt Saputelli. Der Anleihenmarkt sei nicht attraktiv gewesen, darum floss viel Geld in den Neubau von Immobilien. «Damals haben wir über Leerstände gejammert», so Saputelli, «in den umliegenden Regionen wohlgemerkt, nicht in den Städten.»

Grafik Leerstandsquote
SWI swissinfo.ch / Kai Reusser

Dieser Moment, in dem es ausserhalb der Zentren einfacher war, eine Wohnung zu finden, als heute und die Preise regional nachgaben, erscheint als Welle in der Leerstandsquote, die nun in sich zusammengefallen ist. Die Reserven sind aufgebraucht und die Werte zurück auf dem Niveau der frühen 2000er-Jahre.

Fächert man nach Typen auf, zeigt sich in den Grosszentren ein auffallend flacher Verlauf. Hier gab es nie eine echte Markterholung.

Am grössten waren Ausschlag und Rückgang beim Leerstand in den Tourismusgebieten, wo die Nachfrage nach Ferienimmobilien im Zuge der Pandemie massiv gestiegen ist. Anfang April überschrieb der Tages-Anzeiger einen ArtikelExterner Link zum Thema so: «Selbst die Tourismusdirektorin hat keine Wohnung gefunden».

Richtet man den Blick weiter zurück, gab es in der Schweiz aber viel extremere Phasen von Wohnungsnot. Im 20. Jahrhundert nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, dann in den 70er- und 80er-Jahren, als der Wohnraum in den Städten knapp wurde und zu sozialen Spannungen führte.

Demonstrantinnen und Demonstranten in Zürich.
Protest gegen den Abbruch besetzter Häuser in Zürich 1974. Keystone

Laut dem historischen Lexikon der Schweiz blieb das Angebot bis 1992 «stets hinter der Nachfrage zurück, ein marktregulierender Leerwohnungsbestand fehlte».

Auch heute liegt der Leerstand klar unter dem Wert für einen ausgeglichenen Markt, einem Markt also mit stabilen Mieten. Laut einer Untersuchung von Wüest Partner läge dieser «Optimalwert» im Schweizer Durchschnitt bei 1,27 Prozent, also deutlich über dem aktuellen Leerstand von 1,08 Prozent.

Weil der Optimalwert von verschiedenen Kriterien wie Preisniveau oder geografischer Lage abhängt, variiert er je nach Kanton. Den tiefsten Wert errechnete Wüest Partner für Zug mit 0,44 Prozent, den höchsten für Solothurn mit 2,36 Prozent.

Was hemmt die Bautätigkeit in der Schweiz?

Grösstes Hindernis für die Neubautätigkeit in der Schweiz ist das Raumplanungsgesetz von 2014, das praktisch keine Einzonung mehr zulässt, mit der Folge, dass Bauland immer rarer wird. Das ist in der dicht besiedelten Schweiz aber politisch gewollt.

Die Antwort der Politik auf die Verknappung der Bauzonen heisst Verdichtung: Da, wo bereits kein Grün mehr ist, soll nun höher gebaut werden. Die Forderung ist über die Parteigrenzen hinweg populär, die Umsetzung aber schwierig.

Die Stadt Zürich beispielsweise hätte laut gültiger Bau- und Zonenordnung auf ihrem Stadtgebiet Platz für 650’000 Menschen, rund 200’000 mehr als heute. Aber das Verdichtungspotenzial wird nicht ausgeschöpft, manchmal aus persönlichen Gründen, oft aber auch, weil sich die Investition in ein zusätzliches Stockwerk nicht rechnet.

Hinzu kommt eine weitere, typisch schweizerische Einflussgrösse: die Macht der Rekurse. «Einsprache ist die fünfte Landessprache», sagt dazu Ursina Kubli, Leiterin des Immobilien-Research bei der Zürcher Kantonalbank (ZKB), einem der grössten Bankinstitute der Schweiz.

Die ZKB hat den Einfluss der Verdichtung auf das Wohnungswachstum vor zwei Jahren in einer Studie untersucht. Demnach waren im Kanton Zürich durch das sogenannte Bauen im Bestand jährlich etwas mehr als 1400 Wohnungen entstanden – rund 14 Prozent des Wohnungsneubaus. Für die Stadt Zürich kommt die Studie zum Schluss: Obschon es ein beachtliches Aufstockungspotenzial gebe, bleibe die Aktivität gering.

Mehr ins Gewicht fallen Ersatzneubauten. Durch Abbruch und Neubau entsteht auf gleichem Grund Wohnraum für durchschnittlich 87 Prozent mehr Menschen, wie Zahlen der Stadt Zürich zeigen. Gerade Ersatzneubauten sind aber oft das Ziel von Einsprachen.

Um dies zu lösen, müsse die Schweiz einen Dialog darüber führen, wer, wo, in welchem Rahmen Möglichkeiten zur Einsprache habe, sagt Kubli. Es ist unter Immobilienexpertinnen und -experten eine verbreitete Meinung. Auch der Baumeisterverband hat entsprechende Massnahmen gefordert.

Bringen die tiefen Zinsen die Wende am Wohnungsmarkt?

Hoffnungsschimmer am Horizont ist die geldpolitische Lage. Die tiefen Zinsen könnten dem Bausektor in der Schweiz einen neuen Schub geben. So hat die Schweizerische Nationalbank den Leitzins zuletzt zum fünften Mal in Folge gesenkt, auf noch 0,25 Prozent im März.

Und weitere Senkungen sind wahrscheinlich: Laut Bankiersvereinigung erwartet mehr als die Hälfte der Fachleute eine Rückkehr der Schweiz zum Nullzins oder zu Negativzinsen im laufenden JahrExterner Link.

Es wäre ein starker Stimulus für die Bautätigkeit, wie UBS-Analyst Saputelli festhält. «Es ist keine lineare Geschichte. Wenn die Zinsen von 1,5 auf 1 Prozent sinken, löst das keinen grossen Effekt aus. Aber Negativzinsen tun wirklich weh. Dann suchen viele Pensionskassen einen Bond-Ersatz.» Die jüngsten Verwerfungen an den Finanzmärkten könnten zusätzlich als Verstärker wirken.

Weil Bauen Zeit braucht, wird eine Verschiebung der Investitionstätigkeit in den Immobiliensektor aber erst verzögert wirksam.

Die Wohnungsnot werde in der Schweiz ein Thema bleiben, sagt Weinert von Wüest Partner. «Mindestens für die nächsten fünf Jahre, das ist etwa der Zeitraum, der sich abschätzen lässt.»

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Editiert von Balz Rigendinger

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