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Der Aussenblick: Was die Forderung “Alle sollen wählen, wo sie wohnen” für die Fünfte Schweiz bedeutet

Claude Longchamp
Illustration: Helen James / swissinfo.ch

Eine neue Volksinitiative fordert ein Grundrecht auf Einbürgerung. Argumentiert wird unter anderem, man solle die politischen Rechte dort ausüben, wo man wohnt. Zu Ende gedacht hätte das massive Konsequenzen für das Stimm- und Wahlrecht der Auslandschweizer:innen. 

Im Sommer verfasste ich einen Beitrag der “Aussenblick”-Serie zur Geschichte des Wahl- und Stimmrechts für Auslandschweizer:innen.

Meine Bilanz blieb durchzogen, denn es bestehen weiterhin Defizite bei der Zustellung des Wahlmaterials und bei der Beteiligung.

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Zu meiner Überraschung erhalte ich zu dieser Kolumne anhaltende Reaktionen: Auslandschweizer:innen seien privilegiert, weil viele Doppelbürger:innen seien, heisst es in diesen Nachrichten. Das widerspreche dem Prinzip “One man, one vote”, ist eine typische Aussage.

Andere Kritiken halten fest, wirklich benachteiligt seien Ausländer:innen, die in der Schweiz ohne Einbürgerung keine Chance auf politische Mitsprache hätten. Da gelte es den Hebel anzusetzen, nicht bei Auslandschweizer:innen.

Am bündigsten war der Widerspruch aus den Tasten eines ehemaligen grünen Politikers: Demnach sei das Stimm- und Wahlrecht für Auslandschweizer:innen demokratiepolitisch bedenklich. “Stattdessen brauche es politische Rechte für Alle nur in dem Land, wo sie leben, unabhängig von Herkunft und Alter.”

Alle Rückmeldungen kamen aus dem Umfeld der “Aktion Vierviertel”. Diese wurde im Wahljahr rund um eine Volksinitiative für ein modernes Bürgerrecht gestartet. Diese Volksinitiative verlangt ein Grundrecht auf Einbürgerung in der Schweiz für alle, die hier leben.

Gemeint sind damit Ausländer:innen, die sich seit fünf Jahren rechtmässig in der Schweiz aufhalten; nicht zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt worden sind; die innere und äussere Sicherheit der Schweiz nicht gefährden; und Grundkenntnisse einer Landessprache haben. Dass alle nur in einem Land politische Rechte haben sollten, findet sich im Initiativtext nicht.

Doch anscheinend gehört es zu den Argumenten der links-grün-liberalen Unterstützer:innen der Initiative. Zu Ende gedacht, würde dieses Argument allerdings das Ende des Wahlrechts für Auslandschweizer:innen in deren alten Heimat bedeuten.

In der Theorie zwei Auffassungen, in der Praxis meist eine Mischung

Im 21. Jahrhundert stehen sich theoretisch zwei relevante Auffassungen zum Bürgerrecht und damit auch zu den politischen Rechten gegenüber:

  • Das Wahlrecht von der Herkunft abzulösen und es an den Lebensmittelpunkt zu binden. Dieses “ius soli” orientiert sich in seiner reinen Form am einfach festellbaren Geburtsort.
  • Anders funktioniert das “ius sanguinis”. Es geht von der Nationalität der Eltern aus, die sich auf ihre Kinder überträgt und bestehen bleibt, egal wo man hinzieht und lebt.

In der Praxis sind reine Formen selten, eher Mischungen von beiden üblich.

“One man, one vote” als Argument für weniger Stimmberechtigte zu verwenden, wäre gegen die Idee dahinter: Denn der Slogan wurde am Ende des 19. Jahrhunderts populär, als es galt, beim Wahlrecht Vorrechte der Bürger gegenüber Arbeitern abzubauen. Im 20. Jahrhundert wurde er verwendet, um das Wahlrecht ethnisch Diskriminierter zu begründen.

Zudem: Würde man den Spiess umdrehen und den Grundsatz gegen die Auslandschweizer:innen verwendet, wäre nirgends garantiert, dass im Ausland gleiche Regeln gelten würden, wie sie in der Schweiz eingeführt werden könnten.

Demokratieforschung weltweit

Das V-Dem Projekt der Uni Göteborg bewertet seit Jahren die politischen Systeme weltweit. Demnach gewichten reife Demokratien Faktoren wie gesicherte Grundrechte, funktionierender Rechtsstaat, geförderte Egalität, öffentliche Verhandlungen und politische Beteiligung ebenso hoch wie die Wahl eines Parlaments.

Die Schweiz wird vom internationalen Forschungsteam regelmässig gelobt. Besonders hervorgehoben wird die politische Partizipation. Drei Gründe sprechen dafür: die Existenz von Wahlen und Abstimmungen, die Demokratisierung der Gliedstaaten, Städte und Gemeinden und die Bürgerbeteiligung im politischen Prozess.

Soll daran gerüttelt werden?

Eigenheiten des Schweizer Demokratieverständnisses

Zu den Eigenheiten der Schweiz gehört es, die Institutionen der demokratischen Beteiligung zwar stark ausgebaut zu haben, das Recht auf die Nutzung für bestimmte Gruppen aber zu beschränken.   

Frauen waren die wichtigste Gruppe, die das lange erfahren musste. Die Männer hatten bis 1971 ihre ausgebaute direkte Demokratie, sie nichts!

Doch waren sie damit nicht die einzigen: Ausgeschlossen wurden lange auch arme Menschen. Betroffen waren auch Auslandschweizer:innen.

Menschen mit Einschränkungen oder Leuten unter 18 Jahren gewährt die Schweiz nach wie vor keine politischen Rechte.

Zum Schweizer Demokratiebild gehört lange das Selbstverständnis, man sei etwas Spezielles, entsprechend gelten die politischen Rechte als ein Privileg, das zu erwerben, anspruchsvoll sein soll. Erst die globale Debatte über zeitgemässe Demokratie hat den Weg zu einer Neudefinition und Erweiterung der Nutzung politischer Rechte geöffnet.

Bei den Auslandschweizer:innen kam die formelle Wende 1966 mit einem Verfassungsartikel, die faktische nach 1992 mit der brieflichen Stimmabgabe.

Bei den behinderten Menschen nahmen wir die entsprechende UNO-Charta 2014 an. Der Kanton Genf inkludierte Menschen mit Einschränkungen 2020 als erster bei den politischen Rechten.

Nun sind wir bei den ganz Jungen an der Arbeit: Glarus führte das Stimmrecht 16 schon im Jahr 2007 ein; auf Bundesebene steht eine Entscheidung noch aus.

Der Trend verläuft zwar langsam, ist aber offensichtlich.

Die höchste Hürde ist tatsächlich das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer:innen. Nur wenige Gemeinden und zwei Kantone haben es bis jetzt eingeführt.

Zahlreiche Versuche, das auszubauen, sind allerdings gescheitert: Die Mehrheit der Stimmberechtigten stellt sich dagegen. Haupthindernis, um politisch mitbestimmen zu können, wird das Bürgerrecht bleiben.

Die langfristige Perspektive

Der weltweite Trend geht eher in die Richtung, Privilegien beim Wahlrecht abzubauen, als dieses neu zu begründen. Auch wenn der Prozess nur schrittweise und langfristig sichtbar wird.

Das spricht im Prinzip für die Volksinitiative der “Aktion Vierviertel”, nicht aber gegen das Stimm- und Wahlrecht für Auslandschweizer:innen. Eine Kombination von beidem würde die Chancen dieser Initiative nicht erhöhen, eher senken.

Editiert von Marc Leutenegger.

Volksinitiativen haben es in der Schweiz schwer, wie dieser Artikel aus unserem Archiv erklärt:

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