Russlands Krieg in der Ukraine zeigt Schwächen der UNO
Die westlichen Staaten reagierten bemerkenswert geschlossen auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar. In anderen Teilen der Welt zeigte der Krieg jedoch Konfliktlinien und wechselnde Zugehörigkeiten auf, die sich auf die globale Politik und die Vereinten Nationen auswirken könnten – auch in Genf.
Während Europa, die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und Japan den Krieg Russlands in der Ukraine scharf verurteilt haben, wollen sich viele Länder nicht wirklich für eine Seite entscheiden.
China gehört offenbar dazu, ebenso wie Indien, die Golfstaaten und viele afrikanische Länder. Doch angesichts der verschiedenen UNO-Abstimmungen über Russlands Einmarsch in seinem Nachbarland (siehe Infobox unten) haben einige Länder bereits ihre Position geändert.
So enthielten sich die Vereinigten Arabischen Emirate und Senegal zunächst der Stimme, stimmten dann aber doch für die Verurteilung Russlands. China und Indien enthielten sich konsequent der Stimme.
Die Abstimmungen in der UNO-Vollversammlung sind die einzigen, bei denen alle 193 UNO-Mitgliedstaaten abstimmen können, wobei kein Staat ein Vetorecht hat, wie das im UNO-Sicherheitsrat der Fall ist.
Auf Schweizer Seite hat sich die Regierung in Bern nach anfänglichem Zögern aufgrund der traditionellen Neutralität der Schweiz den von der Europäischen Union beschlossenen Sanktionsmassnahmen gegen Russland angeschlossen.
UNO-Sicherheitsrat, 25. Februar
Mitglieder: 15, darunter 5 ständige Mitglieder mit Vetorecht (USA, Grossbritannien, Frankreich, China, Russland). Derzeitige nicht-ständige Mitglieder: Albanien, Brasilien, Gabun, Ghana, Indien, Irland, Kenia, Mexiko, Norwegen, Vereinigte Arabische Emirate (VAE).
Ergebnis: Russland legte sein Veto ein. 11 stimmten für die Resolution. China, Indien und die VAE enthielten sich der Stimme.
UNO-Vollversammlung, 2. März
193 Mitgliedstaaten, kein Vetorecht.
Ergebnis (Link mit vollständiger AufschlüsselungExterner Link): Angenommen mit 141 Ja-Stimmen, 5 Gegenstimmen (Russland, Weissrussland, Syrien, Nordkorea, Eritrea) und 35 Enthaltungen. 12 Länder haben überhaupt nicht abgestimmt.
Anmerkung: Die VAE stimmten dieses Mal dafür. Myanmar und Afghanistan haben dafür gestimmt, aber ihre UNO-Vertreter gehören noch den früheren Regierungen an.
Zu den Stimmenthaltungen gehörtenExterner Link China, Kuba, Indien, Iran, Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka, Südafrika, Sudan und Senegal (derzeitiger Vorsitz der Afrikanischen Union). 45% der Stimmenthaltungen entfielen auf afrikanische Staaten.
UNO-Menschenrechtsrat, 4. März
47 Mitglieder.
Ergebnis: Angenommen mit 32 Ja-Stimmen, 2 Nein-Stimmen (Russland und Eritrea) und 13 Enthaltungen (Armenien, Bolivien, Kamerun, China, Kuba, Gabun, Indien, Kasachstan, Namibia, Pakistan, Sudan, Usbekistan, Venezuela).
Anmerkung: Diesmal stimmte Senegal dafür, ebenso wie die VAE.
UNO-Sicherheitsrat, 23. März
Der 15-köpfige Sicherheitsrat hat eine von Russland eingebrachte Resolution nicht angenommenExterner Link, in der ein humanitärer Zugang in der Ukraine gefordert wird (welche die russische Aggression jedoch nicht erwähnte). Nur Russland und China haben für die Resolution gestimmt, während sich die anderen 13 Mitglieder enthalten haben.
UNO-Vollversammlung, 24. März
Die 193 Mitglieder zählende UNO-Vollversammlung verabschiedete mit überwältigender Mehrheit eine Resolution, in welcher der Schutz der Zivilbevölkerung und der Zugang für humanitäre Hilfe in der Ukraine gefordert wird. Sie kritisierte auch Russland für die Schaffung einer «schrecklichen» humanitären Situation nach seiner Invasion. Die Resolution wurde mit 140 Stimmen angenommen, bei 5 Gegenstimmen – Russland, Weissrussland, Nordkorea, Syrien und Eritrea – und 38 Enthaltungen (Link mit vollständiger Aufschlüsselung der StimmenExterner Link).
UNO-Vollversammlung, 7. April
Die Vollversammlung der Vereinten Nationen schloss Russland wegen Berichten über «grobe und systematische Menschenrechtsverletzungen und -missbräuche» durch die einmarschierenden russischen Truppen in der Ukraine aus dem UNO-Menschenrechtsrat in Genf aus.
Bei der Abstimmung am 7. April stimmten 93 Länder dafür – darunter auch die Schweiz –, während 24 Länder mit Nein stimmten und 58 Länder sich der Stimme enthielten. Für die Suspendierung Russlands aus dem 47 Mitglieder zählenden Rat war eine Zweidrittelmehrheit der stimmberechtigten Mitglieder erforderlich. Enthaltungen werden nicht mitgezählt.
Asien
Während Japan die «westliche» Position entschieden unterstützt hat, sind einige Länder in Asien anderer Meinung. Vor allem China und Indien, die sich bei der Abstimmung in der UNO zur Verurteilung der russischen Invasion der Stimme enthalten haben, sind in den Blickpunkt gerückt.
«Angesichts der Beziehungen Chinas zu Russland und seiner Beziehungen zum Westen war Chinas Enthaltung meiner Meinung nach nur zu erwarten», sagt Gopalan Balachandran, Professor für internationale Geschichte und Politik am Graduate Institute in Genf.
Der chinesische Präsident Xi Jinping und der russische Präsident Wladimir Putin erklärten am 4. Februar in einer gemeinsamen Erklärung, dass sie sich «einer weiteren Erweiterung der NATO widersetzen» werden.
Laut Antoine Bondaz, Forscher an der Pariser «Fondation pour la recherche stratégique» (FRS), sehen sich China und Russland nicht gegenseitig als Bedrohung «und sind sich einig darin, den Westen diskreditieren zu wollen. China stellt seine politischen Interessen vor seine wirtschaftlichen Interessen», so Bondaz gegenüber SWI swissinfo.ch. Zudem wolle Peking seinen Einfluss auf die Entwicklungsländer stärker ausbauen als auf den Westen.
Chinas Aussenminister Wang Yi stattete Indien Ende März einen Überraschungsbesuch ab, der laut Bondaz Teil seiner diplomatischen Erzählung ist. «Es will der Welt zeigen, dass der Westen isoliert ist und dass Indien China und Russland unterstützt.»
Indien hat sich bei fünf Gelegenheiten, bei denen Russland bei der UNO verurteilt werden sollte, der Stimme enthalten – darunter auch im Menschenrechtsrat in Genf. «Indien hat sehr enge Beziehungen zu Russland und enge Beziehungen zum Westen», sagt Balachandran. «Es bezieht eine Menge militärischer Ausrüstung aus Russland. Daher versucht Indien, durch seine Stimmenthaltung ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Faktoren herzustellen.»
Möglicherweise wird Indien auch von der Verlockung beeinflusst, angesichts der weltweit steigenden Preise an verbilligtes russisches Öl zu kommen. Und die Entscheidung der grössten Demokratie der Welt, sich in der UNO der Stimme zu enthalten, könnte auf ihre historische Rolle in der Bewegung der Blockfreien Staaten während des Kalten Kriegs zurückzuführen sein.
Erwähnenswert ist auch, dass zentralasiatische ehemalige Sowjetstaaten wie Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan und andere sich bei UNO-Abstimmungen gegen Moskau stets der Stimme enthalten oder gar nicht abstimmen. Da sie Russland nahestehen und wirtschaftlich von ihm abhängig sind, sind sie nervös und wollen eindeutig nicht Partei ergreifen.
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Afrika
In der ersten Abstimmung der UNO-Vollversammlung zur Verurteilung der Invasion stimmten zahlreiche Länder mit «Ja»: Kenia, Ghana, Gabun, Ruanda, Dschibuti, Kongo, Somalia und die Demokratische Republik Kongo. Nur Afrikas strengste Diktatur Eritrea stimmte mit «Nein».
Von den insgesamt 35 Ländern, die sich der Stimme enthielten, waren 17 afrikanische Länder, und weitere acht stimmten überhaupt nicht ab. Bei der zweiten Abstimmung der Vollversammlung war das Muster ähnlich.
Laut Thierry VircoulonExterner Link, Forscher am französischen Institut für internationale Beziehungen (IFRI), gibt es eine Reihe von Gründen für die hohe Zahl afrikanischer Stimmenthaltungen. Dazu zählt der wachsende Einfluss Russlands auf dem Kontinent.
Vor allem nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014, welche die ersten internationalen Sanktionen nach sich zog, versuchte Moskau, seinen Einfluss in Afrika zu erhöhen. Dies besonders durch den Verkauf von Waffen und die Bereitstellung privater Sicherheitsdienste in Konfliktländern wie der Zentralafrikanischen Republik und Mali.
Nordafrikanische Länder wie Ägypten und Algerien sind ebenfalls in hohem Mass von russischen Weizenexporten abhängig, weitere Kunden sind Nigeria, Südafrika, Sudan und Tansania.
Es könnte aber auch historische Gründe geben, sagt Vircoulon. Länder wie Algerien, Angola und Äthiopien waren während des Kalten Kriegs prosowjetisch eingestellt. Andere wie Südafrika, Namibia, Mosambik und Simbabwe erhielten bei ihren Befreiungskämpfen sowjetische Unterstützung.
Und dann ist da noch das Phänomen des zunehmenden Autoritarismus in Afrika mit den jüngsten Militärputschen im Sudan, in Burkina Faso, Mali und Guinea. Nicht zuletzt gibt es in den afrikanischen Ländern eine wachsende antieuropäische (in Westafrika namentlich antifranzösische) Stimmung, die möglicherweise durch die Black-Lives-Matter-Bewegung und die Forderungen nach Entschädigung für koloniale Verbrechen angeheizt wurde.
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Naher Osten und Nordafrika
Für die Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas sei es «im Allgemeinen schwierig, von einer einheitlichen Position in internationalen Fragen zu sprechen. Besonders in Bezug auf die aktuelle Krise, angesichts der Komplexität der ukrainischen Frage und der wichtigen geostrategischen Interessen, die jedes arabische Land dazu veranlassen, sich mit grosser Vorsicht zu positionieren und vor allem seine nationalen Interessen im Auge zu behalten», sagt Mohammad-Mahmoud Ould MohamedouExterner Link, Professor für Geschichte und internationale Politik am Hochschulinstitut IHEID in Genf.
Syrien, dessen Regime durch eine russische Militärintervention gestützt wurde, zeichnet sich dadurch aus, dass es sich konsequent auf die Seite Russlands stellt. Ansonsten, so Ould Mohamedou, sind die Positionen dieser Länder dadurch gekennzeichnet, dass sie zögern, die russische Invasion in der Ukraine klar und deutlich zu verurteilen.
Um diese Haltung zu verstehen, so der Genfer Experte, «müssen wir auf die Kairoer Rede von Präsident Obama im Jahr 2009 zurückgehen», in der die arabischen Staaten zu einer Normalisierung der Beziehungen zu Israel und zur Demokratisierung aufgerufen wurden. Die Länder der Region, einschliesslich der Golfstaaten, begannen daraufhin, sich Russland anzunähern, um ihre Beziehungen zu den USA zu lockern.
Seitdem haben die Vereinigten Staaten ihren Einfluss im Nahen Osten und in Nordafrika verloren, sagt Ould Mohamedou. «Dieser Einflussverlust ist eine Konstante, die sich auch unter der Trump-Präsidentschaft bestätigt hat. Viele dieser Staaten haben in den letzten Jahren ihre Beziehungen zu China, Russland oder Indien gestärkt», sagt er.
Könnte also die «neutrale und unabhängige» Haltung dieser Länder zu einem Wiederaufleben der Bewegung der blockfreien Länder – einer Bewegung aus der Zeit des Kalten Kriegs – auf der internationalen Bühne führen?
«Es handelt sich weniger um einen Ansatz der Neutralität an sich als vielmehr um die Entscheidung, nichts zu entscheiden», sagt Ould Mohamedou. «Die Blockfreiheit war viel ideologischer und wurde von politischen Führern aus der Vergangenheit geleitet, die eine andere Qualität hatten als die heutigen arabischen Führer.»
Dennoch ist er der Meinung, dass der Konflikt in der Ukraine «der internationalen Positionierung neuen Schwung zu verleihen scheint, und das ist eine interessante Entwicklung, auch wenn sie noch in den Kinderschuhen steckt».
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Lateinamerika
Bei den UNO-Abstimmungen über den Krieg in der Ukraine spiegle die Reaktion Lateinamerikas die «erste Schicht der Spaltung» innerhalb der Region wider, sagt Jorge Lomonaco, Berater und ehemaliger mexikanischer Botschafter bei der UNO in Genf.
Die offeneren demokratischen Länder stellten sich auf die Seite des Westens, während die autoritären Länder sich auf die Seite Russlands schlugen. So enthielten sich Bolivien, Kuba, El Salvador, Nicaragua und Venezuela der Stimme oder waren bei der Abstimmung nicht anwesend. Die übrigen Länder verurteilten geschlossen den Einmarsch Russlands in die Ukraine.
«Aber wenn man über die Stimmabgaben hinausgeht und sich die Mitbefürwortung von Resolutionen ansieht, die gemeinsamen Erklärungen zur Verurteilung Russlands oder, noch wichtiger, die Sanktionen, dann ergibt sich ein völlig anderes Bild», so Lomonaco.
Kaum ein lateinamerikanisches Land hat sich dem Westen angeschlossen und Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. «Wir werden keine wirtschaftlichen Repressalien ergreifen, weil wir gute Beziehungen zu allen Regierungen der Welt haben wollen», sagte der mexikanische Präsident Andres Manuel Lopez Obrador am 1. März.
Können wirtschaftliche Faktoren die Position Lateinamerikas erklären? «Ich glaube nicht, dass es wirtschaftliche Gründe sind», sagt Lomonaco. «Nicaragua, Kuba und Venezuela haben starke wirtschaftliche Beziehungen zu Russland, aber der Rest der Region nicht; die Handels- und Investitionsströme sind in den meisten Fällen irrelevant.»
Einige lateinamerikanische Staatsoberhäupter könnten Nostalgie für den Kommunismus der Sowjetära empfinden, sagt der Berater. Andere möchten sich vielleicht ihre Optionen offen behalten, sollte sich eine neue Weltordnung herausbilden – vielleicht unter der Führung Chinas. Und einige wollen vielleicht ihren Antiamerikanismus zum Ausdruck bringen.
Wie lange sie ihre Position aufrechterhalten können, ist eine offene Frage. «Je länger dieser Krieg andauert, desto höher könnte der Preis sein, den alle für ihre eigenen Entscheide zu zahlen haben», sagt Lomonaco.
(Mitarbeit: Akiko Uehara, Abdelhafidh Abdeleli, Dorian Burkhalter und Virginie Mangin. Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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