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Sommersession oder konservativer Backlash unter der Bundeskuppel

Die Forderungen des Frauenstreiks vom 14. Juni scheinen es nicht zu schaffen, die Mauern des Bundeshauses zu durchdringen. ©keystone/peter Schneider

Erhöhung des Militärbudgets, Verbot der inklusiven Sprache, Ablehnung des Prinzips der gegenseitigen Zustimmung zu sexuellen Kontakten: Die abgelaufene Sommersession des Schweizer Parlaments wurde von einer Art Backlash traditioneller Werte geprägt. Ein Überblick über die wichtigsten Entscheide der letzten drei Wochen.

Der Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die souveräne Ukraine lag über der Sommersession des Parlaments, die am Freitag in Bern zu Ende geht. Wie viele andere Länder wird auch die Schweiz das Budget für die Armee aufstocken.

Auf Betreiben der Rechten nahm das Parlament eine Motion an, die eine schrittweise Erhöhung des Budgets für die Rüstung ab dem nächsten Jahr vorsieht. Bis 2030 soll der Etat so von fünf auf sieben Milliarden Franken steigen.

Aber was mit diesen zusätzlichen 40% kaufen? Hier sind noch viele Fragen offen. Verteidigungsministerin Viola Amherd erinnerte daran, dass die amerikanischen F-35-Kampfflugzeuge und das Boden-Luft-Verteidigungssystem namens Patriot für die Regierung Priorität hätten.

Ausserdem seien die Beschaffung von Rüstungsgütern für die Landstreitkräfte, der Kauf neuer Mörsergranaten und Investitionen im Cyber-Bereich notwendig.

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Die Ratslinke kritisiert jedoch, dass die Entscheidung ohne eine genaue Analyse der Bedürfnisse der Armee getroffen worden sei. “Es wird nicht gelingen, das von der Rechten gewünschte Geld auszugeben, da die Armee kein Konzept hat”, sagte der sozialdemokratische Abgeordnete Roger Nordmann ironisch.

Andere fragten sich, wie diese zusätzlichen Ausgaben finanziert werden sollen. Sie befürchteten Budgetkürzungen in anderen Bereichen oder Steuererhöhungen.

Neutralität, Inflation, Klima

Auch die Umsetzung der Schweizer Neutralität spaltete die Parlamentarier:innen. Der Nationalrat (Unterhaus) will den Handlungsspielraum der Schweiz bei Sanktionen erweitern. Die Abgeordneten der Linken und der Mitte stimmten einer Revision des Embargogesetzes zu. Das ermöglicht es dem Bundesrat, seine eigenen Wirtschaftssanktionen zu erlassen, ohne sich an die der Europäischen Union anlehnen zu müssen.

Auf der Rechten ist man der Ansicht, dass diese Reform nicht mit dem Neutralitätsprinzip vereinbar sei. Die Entscheidung ist aber noch nicht definitiv gefällt, da die Vorlage erneut an den Ständerat (Oberhaus) gehen muss.

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Als Kollateralwirkung des Krieges in der Ukraine und der daraus folgenden Inflation wurden auch die steigenden Benzin- und Heizkostenpreise ausführlich diskutiert. Die Schweizerische Volkspartei (SVP/rechtskonservative Partei) forderte eine Senkung der Mineralölsteuer, um die Haushaltsbudgets zu entlasten. Der Vorschlag wurde aber in beiden Kammern abgelehnt.

Ein Jahr vor den eidgenössischen Wahlen sind die Debatten über verschiedene Vorschläge zur Erhöhung der Kaufkraft jedoch keineswegs beendet. Jede Partei verkauft ihr Rezept, um den Druck auf die Geldbörsen der Schweizerinnen und Schweizer zu verringern und Wählerinnen und Wähler anzuziehen.

In diesem heissen Juni standen auch die globale Erwärmung und ihre Folgen auf der Agenda der Session. Ein Jahr nach dem Nein zum CO2-Gesetz durch das Volk hat der Nationalrat als Alternative zur Gletscher-Initiative ein Gesetzesentwurf angenommen, der den Ausstieg aus den fossilen Energien auf 2050 festlegt.

Um dieses Ziel zu erreichen, verzichtet dieser indirekte Gegenvorschlag aber auf ein Verbot fossiler Brennstoffe, wie es die Initiative gefordert hatte. Stattdessen sieht er zeitlich und sektoral bezifferte Ziele vor und stellt dafür 3,2 Milliarden Franken zur Verfügung. Die Versuche der konservativen Rechten, das Projekt abzuschwächen, wurden vom Tisch gewischt.

Begriff der Vergewaltigung entstaubt, aber…

Wichtige gesellschaftliche Debatten beschäftigten das Parlament ebenfalls. Der Ständerat schloss insbesondere die Modernisierung der Definition von Vergewaltigung ab, ohne jedoch den Forderungen der feministischen Bewegungen nachzukommen.

Bisher waren Vergewaltigung restriktiv definiert. Nur die nicht einverständliche vaginale Penetration einer Frau durch einen Mann galt als Vergewaltigung. Dazu musste das Opfer einen gewissen Widerstand geleistet haben.

Dank einer vom Ständerat verabschiedeten Revision des Strafrechts soll künftig jede nicht einvernehmliche orale, vaginale oder anale Penetration, die einem Mann oder einer Frau aufgezwungen wird, als Vergewaltigung gelten. Auch der Begriff der Nötigung wurde aufgegeben.

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Während diese Änderungen nicht bestritten wurden, war umstritten, wie der Wille beider Partner am besten respektiert werden sollte. Der Ständerat entschied sich schliesslich für den Grundsatz “Nein heisst Nein”, d. h. das Opfer muss seine Ablehnung explizit zum Ausdruck gebracht haben. Feministische Kreise plädierten jedoch für die Variante “Ja ist Ja”, bei der die Partner ihre gegenseitige Zustimmung zum Ausdruck bringen müssen.

Keine gendergerechte Sprache in Bundesverwaltung

Ein weiterer Schlag gegen den Feminismus: Benjamin Roduit von der Mitte-Partei ist es gelungen, präventiv die geschlechtergerechte, inklusive Sprache in der Bundesverwaltung zu verbieten. Während der Ständerat noch entscheiden muss, hat der Nationalrat die Motion des Französischlehrers aus dem Kanton Wallis bereits angenommen.

Darin verlangt er, dass sich die Verwaltung an die Regeln der sehr konservativen Académie française zu halten habe.

Die Parlamentarier:innen lehnten auch einen Schwangerschaftsurlaub sowie eine Erhöhung der Mutterschaftsbeihilfe ab.

Wende nach Klima- und “Frauenwahl”

Das zeigt, dass konservative Werte unter der Bundeskuppel auf dem Vormarsch sind. Trotz eines Parlaments, das weiblicher ist als je zuvor, sind die Forderungen des Frauenstreiks, der am 14. Juni 2019 in der ganzen Schweiz von mehr als einer halben Million Menschen getragen wurden, nicht mehr so hörbar.

In diesem Jahr fiel der 14. Juni übrigens etwas leiser aus, aber immer noch gingen etwa 50’000 Menschen – auch Männer – auf die Strasse, um die Ungleichheit der Geschlechter anzuprangern.

Der nun eingetretene konservative Backlash könnte sich auch auf den nächsten Kampf der Linken und der Gewerkschaften gegen die AHV-Reform auswirken: Die Bürger:innen befinden im September an der Urne über die Vorlage, die eine Erhöhung des Rentenalters für Frauen von 64 auf 65 Jahre vorsieht.

Inklusion von Menschen mit Sehbehinderung 

Das Parlament sendet aber auch Signale der Öffnung aus. Der Sommersession kam das Verdienst zu, die Inklusion der 600’000 hör- und 370’000 sehbehinderten Menschen im Land zu verbessern – zumindest ein wenig.

Zunächst einmal haben die Abgeordneten eine Motion angenommen, um die Gebärdensprache als Landessprache anzuerkennen. Die Schweiz ist derzeit noch eines der wenigen Länder in Europa, das dieser Sprache noch keine rechtliche Existenz verleiht.

Wenn die Motion auch im Ständerat passiert, wird sie die Chancengleichheit von gehörlosen Menschen in mehreren Bereichen fördern, z. B. beim Zugang zu Informationen, bei der politischen Partizipation oder bei der Bildung.

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Sehbehinderte Menschen hingegen sollen in Zukunft endlich ohne Hilfe einer anderen Person abstimmen können. Der Nationalrat hat die Bundeskanzlei beauftragt, eine entsprechende Lösung zu finden. Der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen (SZB) hat ein System vorgestellt, mit dem Sehbehinderte auf dem Stimmzettel die Ja- und Nein-Kästchen taktil erkennen können.

Das noch ausstehende Ja der kleinen Kammer vorausgesetzt, wird dies die Inklusion von Menschen mit Sehbehinderungen in die politischen Rechte, also in die direkte Demokratie Schweiz bringen.

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