Das Covid-Zertifikat kommt an die Urne
Wie in vielen anderen europäischen Ländern wird auch in der Schweiz der Widerstand gegen das Covid-Zertifikat auf der Strasse lautstark geäussert. Als einzige weltweit werden die Bürger:innen die Möglichkeit haben, in einer Volksabstimmung über den umstrittenen Passes zu entscheiden.
«Liberté, liberté» skandieren die Gegner:innen der Covid-Massnahmen seit Wochen in den Strassen der Schweizer Städte. Am 28. November haben sie die Möglichkeit, sich in einer Volksabstimmung Gehör zu verschaffen.
Warum stimmen wir erneut über das Covid-Gesetz ab?
Am 8. Juli reichten drei Referendumskomitees insgesamt 74’469 von der Bundeskanzlei als gültig erachtete Unterschriften gegen die Änderung des Covid-Gesetzes vom 19. März 2021Externer Link. Diese während der Pandemie entstandenen Bürgerbewegungen ohne eindeutige Parteizugehörigkeit kritisieren die Machtausweitung des Bundesrates und insbesondere das Covid-Zertifikat.
Es ist das zweite Mal innerhalb von knapp sechs Monaten, dass das Schweizer Volk über ein und dasselbe Gesetz abstimmen wird – ein Novum in der Geschichte der schweizerischen halbdirekten Demokratie. Am 13. Juni wurde das Covid-19-Gesetz in einer ersten Volksabstimmung mit 60,2% der Stimmen angenommen und nur von einigen Kantonen der Zentral- und Ostschweiz abgelehnt, wo sich der Widerstand gegen die Massnahmen der Regierung zur Bekämpfung des Coronavirus konzentriert.
Unser Video erklärt das fakultative und obligatorische Referendum in der Schweiz:
Für die Befürworter:innen des Gesetzes wird der Wahlkampf dieses Mal jedoch schwieriger werden. Im Mittelpunkt der ersten Abstimmung stand die finanzielle Unterstützung für Unternehmen und Menschen, die während der wütenden Pandemie von Schliessungen betroffen waren. Dieses Thema wird nun von der Debatte über individuelle Freiheiten überschattet.
Auch das politische Klima hat sich in den letzten Monaten deutlich verschärft. Politiker:innen, darunter Gesundheitsminister Alain Berset, mussten unter Polizeischutz gestellt werden, und bei einigen Demonstrationen von Gegner:innen der Gesundheitsmassnahmen musste die Polizei hart durchgreifen.
Welche Massnahmen sind von dem Referendum betroffen?
Das Referendum richtet sich insbesondere gegen das Covid-Zertifikat, das seit dem 13. September für den Besuch von Restaurants, Fitnesscentern, Kinos und grossen Kultur- und Sportveranstaltungen vorgeschrieben ist. Sie wirkt sich auch auf die Verlängerung bestimmter finanzieller Hilfen aus, obwohl die Referend:innen dies nicht zum Wahlkampfthema machen.
Andererseits betrifft das Projekt weder die Impfung noch die anderen vom Bundesrat eingeführten Gesundheitsmassnahmen. Das Tragen von Masken oder die Schliessung von Betrieben, die sich auf das vom Volk im Jahr 2013 verabschiedete Epidemiengesetz stützen, können jederzeit fortgesetzt oder wieder eingeführt werden, wenn die epidemiologische Situation dies erfordert.
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Coronavirus: Die Situation in der Schweiz
Was sind die wichtigsten Argumente für das Gesetz?
Das Covid-Zertifikat habe es den Menschen ermöglicht, so weit wie möglich in ein normales soziales Leben zurückzukehren, sagt die Regierung. Es sei ein wirksames Mittel, um die Begegnungen auf Personen zu beschränken, die nicht ansteckend sind oder bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung sehr gering ist.
In wirtschaftlicher Hinsicht ermögliche das Zertifikat die Fortsetzung der Wirtschaftstätigkeit und die Erhaltung von Arbeitsplätzen. Das Covid-Zertifikat erleichtert auch das Reisen in der Schweiz und im Ausland.
Schliesslich profitieren die Unternehmen dank dieses Gesetzes weiterhin von einer zusätzlichen Unterstützung im Falle von Teilarbeitslosigkeit.
Was sind die Hauptargumente gegen das Gesetz?
Die Gegner:innen des Covid-Gesetzes sind der Ansicht, das Covid-Zertifikat diskriminiere ungeimpfte Personen und führe zu einer indirekten Impfpflicht. Der Bundesrat würde auf diese Weise die Bevölkerung zur Impfung zwingen – wobei anzumerken ist, dass die Schweiz eine der niedrigsten Impfraten Westeuropas aufweist. Die Gegner:innen sagen, diese Massnahme spalte Gesellschaft und gefährde den sozialen Frieden.
Das Nein-Lager warnt vor einer «Gesundheitsdiktatur» des Bundesrates und prangert eine «undemokratische und gefährliche» Ausweitung der Befugnisse an, die er mit diesem Gesetz erhalte.
In den Referenden wird auch vor der massiven elektronischen Überwachung der Bürger:innen gewarnt, die sich aus dem im neuen Gesetz verankerten digitalen Contact-Tracing ergeben würde.
In diesem Video finden Sie die wichtigsten Argumente für und gegen das Covid-Gesetz:
Wer ist dafür, wer ist dagegen?
Die Schweizerische Volkspartei (SVP) ist die einzige Partei in der Regierung, die sich gegen die jüngsten Änderungen des Covid-Gesetzes ausspricht. Auf ihrer Sommerversammlung lehnten die Delegierten der Partei das Gesetz mit 181 zu 23 Stimmen klar ab. Die Partei unterstützte auch das von den drei Bürgerkomitees initiierte Referendum.
Die Regierung und eine grosse Mehrheit des Parlaments unterstützen das Gesetz. Finanzminister Ueli Maurer wurde jedoch vorgeworfen, die Kollegialität der Regierung verletzt zu haben, als er Anfang September vor Mitgliedern seiner Partei erklärte, die Regierung habe «in der Covid-Krise versagt». Er sorgte auch für Kontroversen, weil er den Pullover der «Freiheitstrychler» trug, einer Gruppe von glockenschwingenden Massnahmenkritikern, die an den Demonstrationen gegen das Covid-Regime prominent auftreten.
Was geschieht, wenn das Gesetz abgelehnt wird?
Wird die Vorlage abgelehnt, würden die vom Parlament im Frühjahr angenommenen Änderungen per 19. März 2022 – also ein Jahr nach ihrer Annahme – aufgehoben, wie dies in der Bundesverfassung vorgesehen ist. Dies würde bedeuten, dass es keine Rechtsgrundlage mehr für die Ausstellung und Kontrolle eines Covid-Zertifikats gäbe. Die Referenden sprechen sich jedoch für die Entwicklung eines freiwilligen Covid-Zertifikats aus, um Reisen ins Ausland zu erleichtern.
Auch die finanzielle Unterstützung für Grossveranstaltungen würde im nächsten Frühjahr auslaufen. Der Bundesrat warnt auch davor, dass zusätzliche Taggelder für Arbeitslose oder die Möglichkeit, die Dauer des Anspruchs auf Kurzarbeit auf 24 Monate zu verlängern, abgeschafft würden.
Schliesslich könnte der Bund keine Förderprogramme für die Entwicklung von Medikamenten oder anderen wichtigen medizinischen Gütern mehr auflegen.
(Übertragung aus dem Französischen: Jonas Glatthard)
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