Dieser Forscher begründete in Basel die Longevity-Forschung

Vor über 30 Jahren gelang Michael Hall eine bahnbrechende Entdeckung: Der Molekularbiologe an der Universität Basel entdeckte das Gen "TOR", das für die Entwicklung vieler Krebsmedikamente unabdingbar werden sollte. Damit begründete Hall letztlich die aktuelle Forschung zur Langlebigkeit.
In der heutigen Langlebigkeits-Community, die sich intensiv über Soziale Medien austauscht, ist Michael Hall kaum bekannt. Er hat keine Bücher zur Frage veröffentlicht, warum wir altern, auch war er in keinem Film über das Geheimnis von Hundertjährigen zu sehen.
Als Nebenerwerb verkauft er weder Nahrungsergänzungsmittel, noch preist er die Vorteile von hyperbarem Sauerstoff oder Rotlichttherapie an – Behandlungen, die in heutigen Langlebigkeits-Kliniken (engl.: longevity) oft zum Standardangebot gehören.
Der sanftmütige 71-Jährige, den man äusserlich mit Schauspieler Robert De Niro verwechseln könnte, hat für seine eigene Gesundheit und Vitalität eine einfache Erklärung: «Bewegung, gesunde Ernährung, soziale Kontakte und vielleicht auch gute Gene», wie er gegenüber SWI swissinfo.ch bilanziert.

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Dass Hall im aktuellen Hype um die Langlebigkeit keine Rolle spielt, ist umso erstaunlicher, als seine wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Frage, wie wir altern und wie der Alterungsprozess verlangsamt werden könnte, weithin als wegweisend gelten.
Hall entdeckte Anfang der 1990er-Jahre in der Hefe ein Gen, das in der Zelle quasi den Stromkreis steuert und als Reaktion auf das Nährstoffangebot in seiner Umgebung das Zellwachstum und den Stoffwechsel reguliert.
Er nannte das Gen «Target of Rapamycin» (TOR) nach dem Wirkstoff Rapamycin, der ursprünglich in den 1960-70er Jahren an einem Bakterium entdeckt wurde, das als Immunsuppressivum häufig bei Organtransplantationen zum Einsatz kommt. Als das Gen in Säugetieren (engl. mammals) entdeckt wurde, erhielt es den Namen «mTOR»Externer Link.
«TOR» wirkt sich auch auf zelluläre Prozesse aus, die im Alter ablaufen. Rapamycin hemmt den «TOR»-Signalweg und aktiviert die so genannte Autophagie, einen zelleigenen Prozess zur Beseitigung von altem, geschädigtem Gewebe und Proteinen, die sich mit zunehmendem Alter in der Zelle ansammeln.
Zahlreiche Studie belegen mittlerweile, dass Rapamycin bei diversen Tierarten die Lebensdauer verlängert.
Die Longevity-Enthusiastinnen und Enthusiasten haben sich mittlerweile zu einer schnell wachsenden Gemeinschaft zusammengefundenExterner Link, darunter auch der bekannte amerikanische Arzt Peter AttiaExterner Link, der auf der Grundlage von Halls ursprünglichen Erkenntnissen vor mehr als 30 Jahren mit Rapamycin als Anti-Aging-Medikament experimentiert.
Hall sieht sich trotz seines Beitrags zur Langlebigkeitsforschung nicht als Experten für das Altern. Er konzentrierte sich vielmehr auf die wissenschaftlichen Grundlagen von «TOR» und seines möglichen Einsatzes in der Krebstherapie. Hall wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet, für seinen Beitrag zum Thema Altern jedoch erst 2024.
Letzten November erhielt er den Balzan-Preis, der jedes Jahr an vier Personen für ihre Leistungen in den Bereichen Kunst, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften verliehen wird. Hall wurde für seine «bahnbrechende Forschung» zu den biologischen Mechanismen des Alterns geehrt.
Erste Erfahrungen mit Langlebigkeit
Noch lange vor seiner Arbeit als Wissenschaftler kam Hall erstmals mit dem Wunsch nach einem langen Leben in Berührung. Hall hatte einen wohlhabenden exzentrischen Onkel, der unbedingt 100 Jahre alt werden wollte und eine Expedition plante, um «rüstige Hundertjährige» auf der ganzen Welt zu befragen und körperlich zu untersuchen.
Ihm schlossen sich ein anderer Onkel, der Arzt war, und Alexander Leaf, damaliger Leiter der medizinischen Abteilung des Massachusetts General Hospital und ein Freund Halls, an.
«Ich fragte scherzhaft, ob sie jemanden bräuchten, der ihnen die Koffer trägt. Mein Onkel meinte, ‹Na klar!’», erzählt Hall, der erst gerade sein Studium der Zoologie an der Universität von North Carolina abgeschlossen hatte.
«Damals, in den 1970er-Jahren, sprach niemand über das Altern, so wie das heute geschieht.» Die Mission war jedoch ein Schlag ins Wasser. «Wir fanden nur wenige fitte Hundertjährige», erinnert sich Hall.
2013 stand in einem Nachruf auf Alexander Leaf in der New York TimesExterner Link, dass die von der National Geographic Society gesponserten Expeditionen in die Kritik geraten waren: Es hatte sich herausgestellt, dass einige der befragten Greisinnen und Greise ihr Alter absichtlich oder unabsichtlich falsch angegeben hatten.

Die Reise brachte also keine grossen Erkenntnisse, hinterliess bei Hall aber dennoch einen bleibenden Eindruck. «Das Abenteuer hat mein Interesse am Altern als wissenschaftliches Unterfangen geweckt», meint er rückblickend.
In den späten 1970er-Jahren promovierte Hall an der Harvard University in Molekularbiologie, verfolgte das Thema aber weiterhin nur aus der Ferne.
In den 1980er- und 1990er-Jahren wurde seiner Ansicht nach «zu viel Unsinn» zum Thema Altern erzählt, als dass er das Thema wirklich ernst nehmen konnte.
«Es war wie ein Zirkus mit drei Manegen, in dem ein Haufen Verrückter herumläuft. Jeder, der von der Strasse kam und ein bisschen Geld verdienen wollte, war plötzlich Experte fürs Altern», meint Hall.
Er habe auf Konferenzen sogar Leute gesehen, die als Väterchen Zeit verkleidet herumliefen. «Echte Wissenschaftler, die sich mit dem Altern beschäftigten, gab es jedoch nur wenige.»
Eine grosse Entdeckung
Hall wandte sich von der Alterungsforschung ab und widmete sich weiter der Molekularbiologie. «Ich wollte den Mechanismus verstehen, der bewirkt, dass ein Protein in den Kern einer Zelle transportiert wird.»
Dieser Mechanismus erklärt letztlich, wie Zellen funktionieren. Ist er gestört, könnte dies Krebs, Virusinfektionen und neurodegenerative Störungen zur Folge haben.
Nach seiner Postdoc-Forschung über den Eintrag von Proteinen in den Zellkern an der University of California, San Francisco, beschloss Hall, seine Arbeit anderswo fortsetzen.
Gottfried Schatz, schweizerisch-österreichischer Biochemiker, konnte Hall überzeugen, zum Biozentrum zu wechseln, dem molekularbiologischen Forschungsinstitut der Universität Basel.
Halls Forschung kam erst nicht vom Fleck, bis ein Postdoc-Student namens Joe Heitman zu seinem Team stiess. Heitman schlug vor, die Wirkungsweise von Immunsuppressiva zu untersuchen und zu erforschen, wie Informationen über die Zelloberfläche zum Zellkern gelangen.
Damals waren Immunsuppressiva wie Rapamycin «spannend, weil sie die Medizin von Grund auf revolutionierten», so Hall. Sie machten Organtransplantationen möglich, weil sie das Immunsystem daran hinderten, ein fremdes Organ anzugreifen und abzustossen.
Sie «verlangsamten irgendwie das Wachstum von Immunzellen, indem sie das Weiterleiten eines Signals in den Kern blockierten», sagt Hall. «Darüber hinaus wusste man jedoch kaum etwas darüber, wie diese Wirkstoffe funktionierten.»
Die Entdeckung von «TOR» durch Michael Hall und sein Team war das Ergebnis einer langen und verschlungenen Reise.
1964 unternahm eine Gruppe von Forschenden aus Kanada eine Expedition zur Osterinsel, auch bekannt als Rapa Nui, um nach exotischen Mikroben zu suchen, die für die Herstellung von Medikamenten – in diesem Fall von Antimykotika gegen Pilzerkrankungen – verwendet werden könnten.
In einer der entnommenen Bodenproben entdeckten sie eine Bakterienart, die eine Substanz produzierte, die das normale Immunsystem unterdrückt.
Der Wirkstoff wurde nach dem Fundort Rapa Nui Rapamycin genannt und schliesslich von der amerikanischen Arnzeimittelbehörde FDA als Immunsuppressivum zur Unterdrückung von Abstossungsreaktionen bei Organtransplantationen zugelassen.
Rapamycin und seine Derivate, wie etwa Everolimus, wurden später zur Behandlung verschiedener Krebsarten und anderer Erkrankungen zugelassen.
Im Lauf des nächsten Jahrzehnts machten Hall und sein Team eine Reihe wichtiger Entdeckungen bei der Untersuchung von Rapamycin in Hefezellen.
Ihre erste wichtige EntdeckungExterner Link wurde 1991 in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht und identifizierte zwei bis dahin unbekannte Gene – «TOR1» und «TOR2» – die nach erfolgter Mutation gegen die Wirkung von Rapamycin auf die Zellen resistent waren.
Das Team sequenzierte das Gen, um das von ihm kodierte Protein zu identifizieren. Weitere Untersuchungen ergaben, dass «TOR» eine zentrale Rolle bei der Steuerung des Zellwachstums spielt, was Hall als eine seiner erfreulichsten Entdeckungen bezeichnet.
«Rückblickend erscheint es unglaublich, dass dieser grundlegende Aspekt der Biologie nicht bekannt war. Es gibt so viele Krankheiten wie Krebs, die auf abnormes Zellwachstum zurückgehen», so Hall.
Auf Grundlage dieser Entdeckung entwickelten Pharmaunternehmen eine neue Klasse von Krebsmedikamenten, die als «mTOR»-Blocker bekannt sind, darunter Everolimus, das die Schweizer Firma Novartis unter dem Namen Afinitor vermarktet.
Vom Krebs zur Langlebigkeit
Halls Entdeckung von «TOR» als zentrales Steuerelement von Zellwachstum und Zellstoffwechsel lieferte auch Erkenntnisse zur Frage, warum wir altern.
Wird «TOR» durch die Einnahme eines Wirkstoffs wie Rapamycin oder durch Fasten verlangsamt, kurbelt es einen Reinigungsprozess in der Zelle an, der als Autophagie bezeichnet wird. Dieser verliert jedoch mit zunehmendem Alter an Wirksamkeit.
Findet keine Autophagie mehr statt, sammeln sich im Körper geschädigte Zellen an, was zu altersbedingten Krankheiten wie Arthrose und Neurodegeneration führen kann.
Ein grosser Durchbruch gelang 2003, als ein Wissenschaftler an der Universität Fribourg herausfandExterner Link, dass Würmer bei einer Blockierung von «TOR» 20–30% länger leben. «Das war eine Riesenentdeckung und öffnete der Forschung buchstäblich Tür und ‹TOR’», so Hall.
Daraufhin wurde Rapamycin an Säugetieren getestet, die eine höhere genetische Ähnlichkeit mit dem Menschen aufweisen. 2009 fanden Forschende in den USA herausExterner Link, dass der Wirkstoff die Lebensdauer von Mäusen bei Weibchen um 14% und bei Männchen um 9% verlängert.
Obwohl die Ergebnisse ein immer klareres Bild vermittelten, war Hall nie direkt an der Forschung an «TOR» und Alterungsprozessen beteiligt. «Ich hatte Wichtigeres zu tun und wollte es den Expert:innen der Alterungsforschung überlassen, ‹TOR› in diesem Zusammenhang zu untersuchen.»
Der Forschungsbereich habe definitiv an Bedeutung gewonnen, meint Hall. Zwar sei der Langlebigkeitshype immer noch gross, die wissenschaftliche Arbeit dahinter jedoch sehr viel strikter als früher.
Heute wird Hall häufig als Gastredner zu Konferenzen zum Thema Altern eingeladen und in der Longevity-Szene für seine Entdeckungen gelobt. Der indisch-amerikanische Biologe Venki Ramakrishnan, der 2009 den Nobelpreis für Chemie erhielt, bezeichnete Hall in seinem Buch «Why We Die»(warum wir sterben) als «einen der bedeutendsten lebenden Wissenschaftler der Welt».
Glaubwürdige Wissenschaft
Noch sind viele Aspekte, wie «TOR» die Lebensdauer des Menschen beeinflusst, wissenschaftlich ungeklärt. Klinische Versuche mit Wirkstoffen gegen das Altern sind schwierig, da Älterwerden offiziell nicht als Krankheit gilt.
Somit ist es Pharmaunternehmen gar nicht möglich, ein Präparat zur Zulassung zu beantragen. Entsprechend gering ist der Anreiz für sie, in solche Versuche zu investieren. Im Tierversuch hingegen geht die Forschung voran, beispielsweise bei einem Projekt zur Untersuchung der Anti-Aging-Wirkung von Rapamycin auf HundeExterner Link.
Die Longevity-Community hingegen setzt zunehmend auf Rapamycin, obwohl seine Wirkung im Menschen bisher unbewiesen ist.
Gemäss einer Online-Plattform für «Early Adopters» von RapamycinExterner Link haben im September 2024 mindestens 20’000 Menschen in den USA den Wirkstoff in Pillenform eingenommen, wobei die Wachstumsrate jährlich ca. 300% beträgt.
Die New York Times berichtete letzten SeptemberExterner Link, dass einige dieser Personen eine leichte Wirkung von Gewichtsverlust bis zu Schmerzlinderung festgestellt haben.
Die Einnahme von Rapamycin birgt jedoch auch Risiken. Bryan Johnson, einer der bekanntesten Influencer für Langlebigkeit und Gründer der «Don’t Die»-Bewegung, gab im Dezember auf Instagram bekannt, dass er das Medikament nach fünf Jahren aufgrund von Nebenwirkungen wie Weichteilinfektionen und einem erhöhten Ruhepuls abgesetzt habe.
Einige Expert:innen bleiben jedoch optimistisch. «Man muss davon ausgehen, dass es irgendwann etwas Besseres geben wird. Im Moment aber ist Rapamycin immer noch das vielversprechendste Medikament gegen das Altern», meint Brian Kennedy, ein weltweit führender Alterungsforscher, der heute an der Nationalen Universität von Singapur arbeitet.
Bis heute ist Rapamycin das einzige Medikament, das wiederholt die Lebensdauer bei verschiedenen Arten verlängert hat.
Hall, der selbst kein Rapamycin einnimmt, sieht darin zwar nicht die Wunderpille, ist aber davon überzeugt, dass jedes Medikament zur Verlängerung des Lebens «unweigerlich auf ‹TOR› zurückgehen wird».
Editiert von Nerys Avery/gw, Übertragung aus dem Englischen: Lorenz Mohler/raf
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