Weshalb der Kanton Vorarlberg nur frommer Wunsch blieb
Vor 100 Jahren stimmten die Bürger des österreichischen Bundeslandes Vorarlberg wuchtig für den Beitritt zur Schweiz. Die direkte Demokratie rückte die Schweiz für einen kurzen Augenblick auf die Bühne der Weltpolitik. Zumindest am Rand. Doch genau die Weltpolitik war es auch, die alle Pläne Makulatur werden liessen.
Das Völkerschlachten des Ersten Weltkriegs gerade überstanden, ebenso die Verheerungen der Spanischen Grippe, das Reich der Habsburger in Auflösung, grosse wirtschaftliche Not und eine Hungersnot: So sah die Welt vor 100 Jahren aus.
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Für die grosse Mehrheit der Menschen, die darin lebten, war es kein schönes Leben.
In dieser Zeit wird die Schweiz zum Schauplatz eines demokratischen Akts, der heute weitgehend vergessen ist: Am 11. Mai 1919 stimmten die Bürger des österreichischen Bundeslandes VorarlbergExterner Link für den einen Beitritt zur Schweiz.
Bei der Abstimmung ging es um die Frage, ob die Regierung des österreichischen Bundeslandes mit der Schweizer Regierung Verhandlungen über einen Übertritt aufnehmen soll.
Das Verdikt liess betreffend Volkswillen der Nachbarn keine Zweifel offen: Geschlagene 81% sagten Ja. Es war ein Plebiszit für die Gründung eines Kantons Vorarlberg als neuen Teil der Schweiz.
Die Liebelei war nicht einseitig: Auf Schweizer Seite legte sich der damalige Aussenminister, Bundesrat Felix Louis Calonder, ein Sohn des nahen Kantons Graubünden, mächtig ins Zeug, ennet dem Grenzzaun neue Eidgenossen zu gewinnen.
Kurzer, heftiger Flirt, heftiges Ende
Doch alles Charmieren hüben alles Votieren drüben war letztendlich vergebens. Die Weltgeschichte in Form des Friedensvertrags von St. Germain-en-LayeExterner Link bei Paris setzte 1919 dem kurzen, aber heftigen Flirt über Landesgrenzen hinweg ein Ende.
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Der Vertrag bildete die Grundlage der modernen, demokratischen Republik Österreich und belegte die Bundesländer mit einem Verbot, was den Übertritt zu anderen Ländern betraf. Das galt auch für Vorarlberg.
Da konnte die Schweiz und ihr Aussenminister noch so schöne Augen machen – sie mussten einpacken.
Solidarität mit den Notleidenden
Was aber waren die Gründe, weshalb die Nachbarn gewissermassen mit fliegenden Fahnen die Seiten wechseln wollten? Es habe grosse wirtschaftliche Not und Hunger geherrscht, und niemand habe an das neue Österreich geglaubt, blickte Harald SondereggerExterner Link, Präsident des Vorarlberger ParlamentsExterner Link, am Schweizer Radio SRF zurück.
Sehr wichtig sei aber auch gewesen, dass sich die vom Krieg unversehrte Schweiz damals gegenüber den Nachbarn «sehr freundschaftlich» gezeigt und grosse Hilfe geleistet habe.
Supranationale Region Bodensee als Identität
Die Grenze blieb also bestehen. Bis heute. Doch die Menschen in der Region des oberen Bodensees haben die Beziehungen und Verflechtungen über die Landesgrenzen – nach Deutschland ist es nur ein Katzensprung – kontinuierlich verstärkt.
Heute dominiert der grenzüberschreitende Wirtschaftsraum BodenseeExterner Link. Täglich passieren rund 7000 Österreicher die Grenze, um in der Schweiz zu arbeiten, vorwiegend im Kanton St. Gallen.
Ausdruck der Identität über die Passfarbe hinweg sind auch Kooperationen auf Ebene der Universitäten und Fachhochschulen. Zudem sind Vorarlberg und dessen Hauptstadt für viele Schweizer gleichbedeutend mit Musse, Kultur und Erholung. Und günstiges Einkaufen.
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