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Ist die Schweiz das Burnout-Land schlechthin?

Ein Mann sitzt im Dunkeln vor seinem Computer, seine Körpersprache zeigt Resignation an
Nirgends in Europa ist das Arbeitstempo höher als in der Schweiz, besagt eine Studie. Ist das der Grund für die Häufung von Burnouts? Expert:innen raten von einer singulären Erklärung ab. Mauritius Images / Perfect Wave

Umfragen und Studien zeigen immer mehr Burnout-Symptome in der Schweizer Bevölkerung. Ist die hohe Arbeitsbelastung schuld? Expert:innen sehen noch andere Gründe.

Erschöpft und ausgelaugt. Frustriert und gestresst. Am Anschlag. So fühlen sich immer mehr Schweizer:innen bei der Arbeit.

Es sind Symptome, die typisch für ein Burnout sein können. Jene oft als Volkskrankheit bezeichnete Diagnose, bei der die Erschöpfung überhandnimmt und die oft zu depressionsähnlichen Zuständen führt.

Es gibt viele Zahlen, die in den vergangenen Jahren die Häufung von Burnouts in der Schweiz direkt oder indirekt belegten.

Gemäss dem jüngsten Job-Stress-IndexExterner Link zum Beispiel, der von der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, der Universität Bern und der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften regelmässig durchgeführt wird, fühlen sich 30,3% der Erwerbstätigen emotional erschöpft. Das sind so viele wie noch nie. Emotionale Erschöpfung ist wiederum eine Dimension von Burnout.

Eine StudieExterner Link im Auftrag der SWICA, grösster Krankentaggeld-Versicherer der Schweiz, hatte 2020 ermittelt, dass 57% aller Fehltage aus psychischen Gründen mit Konflikten am Arbeitsplatz zu tun haben.

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Und jüngst hat die SRG in der gross angelegten UmfrageExterner Link „Wie gehts, Schweiz?“ gefragt, ob man sich aufgrund der Arbeitsstelle burnout-gefährdet fühlt: Ein Viertel der Bevölkerung antwortete mit Ja, 17% gaben an, bereits ein Burnout erlebt zu haben.

Die gestresstesten Branchen

„Das alles sollte uns schon nachdenklich stimmen“, sagt Regina Jensen von Gesundheitsförderung Schweiz, eine Mit-Autorin des Job-Stress-Index. Schliesslich verursache ein Burnout viel Leid für die Betroffenen sowie Kosten für die Wirtschaft.

Letztere betragen laut der Studie rund 6,5 Milliarden Franken pro Jahr. „Wir sollten ein grosses Interesse daran haben, diese Entwicklung zu vermeiden“, sagt Jensen.

Der Job-Stress-Index wird ermittelt, indem die Belastungen der Erwerbstätigen mit den vorhandenen Ressourcen auf die Waage gelegt werden. Die Frage, was bei der Arbeit überwiegt, ergibt dann den Stress-Index. Am häufigsten von Stress betroffene Branchen sind laut Studie die Gastronomie und der Bereich Soziales und Gesundheit.

Doch mehr als die Branche, sei es die Funktion, die eine Rolle bei der Gefährdung spiele. So seien es nicht die Manager, die am meisten unter Stress leiden würden, sondern Angestellte und Menschen im Niedriglohnsektor. „Diese haben oft weniger Ressourcen als Führungskräfte, können etwa schlechter Aufgaben auslagern und so ihre Belastungen ausgleichen“, sagt Jensen.

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Doch was steckt dahinter, wenn ein Viertel der Schweizer Bevölkerung sich für burnoutgefährdet hält? „Um das zu beantworten, müsste man wissen, was sich die Befragten unter dem Begriff vorstellen“, sagt Jensen. Das könne sehr unterschiedlich sein. Sogar Fachleute sind sich oft uneinig über die Diagnosekriterien.

Für die Weltgesundheitsorganisation WHO gilt Burnout nicht als eigenständige Krankheit. In dem im Januar 2022 in Kraft getretenen ICD-11 wird das Phänomen jedoch unter „Problemen im Zusammenhang mit Beschäftigung und Arbeitslosigkeit“ aufgelistet.

Burnout wird dort erstmals präzise beschrieben als Syndrom, das durch chronischen, nicht verarbeiteten Arbeitsstress entsteht. Kennzeichnend sind laut der WHO dabei drei Dimensionen:

  • Energielosigkeit und Erschöpfung
  • Eine zunehmende negative Haltung oder mentale Distanz zum eigenen Job
  • Ein Gefühl von mangelnder Leistungsfähigkeit

Die Burnout-Gefährdung nimmt auch in anderen westlichen Gesellschaften zu, wie die Umfrage Future Forum Pulse zeigt, die unter anderem vom Beratungsunternehmen Boston Consulting und dem Büromöbelhersteller Miller Knoll getragen wurde. Die Schweiz wurde darin nicht berücksichtigt. Die Teilnehmenden wurden gefragt, ob sie der Aussage “Ich fühle mich bei der Arbeit ausgebrannt” zustimmen.

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So unklar die Definition von Burnout, so unklar ist auch dessen Ursache. Jensen sieht die veränderten Arbeitsbedingungen als einen Faktor: Die ständige Erreichbarkeit, die hohe Arbeitsintensität oder der Fachkräftemangel erhöhten den Druck auf die Erwerbstätigen.

Höchstes Arbeitstempo in Europa

Laut einer UmfrageExterner Link, die das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) 2021 im Rahmen einer europäischen Erhebung durchgeführt hat, ist das Arbeitstempo und der Termindruck nirgends in Europa so hoch wie in der Schweiz.

Gleichzeitig könnten laut Jensen in den letzten Jahren Faktoren wie Krieg, Pandemie, Klimawandel dazu beigetragen haben, dass man auch ausserhalb der Arbeit zu wenig Erholung fand.

„Viele Menschen sprechen von einem Burnout, wenn sie nicht mehr können“, sagt Niklas Baer, Psychologe bei Workmed. Das Zentrum für Arbeit und psychische Gesundheit ist auf psychische Probleme am Arbeitsplatz spezialisiert.

Rund 400 Personen suchen Workmed jährlich zur Abklärung auf. „Darunter sind sehr viele Leute, die von sich sagen, an einem Burnout zu leiden“, sagt Baer. Das sei jedoch nicht immer die alleinige Erklärung für den Zustand der Klientinnen und Klienten.

„Manchmal sind Konflikte und Kränkungen am Arbeitsplatz nur ein Auslöser für Probleme, die bereits vorher da waren.“ Deswegen sei es wichtig, immer die ganze Arbeitsbiografie und die privaten Umstände anzuschauen. Nicht selten würden auch andere Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen dahinter liegen.

“Salonfähige Diagnose”

Baer betont, dass jedes Burnout ernst zu nehmen sei. Er sagt aber auch: „Vielen Menschen fällt es leichter, von einem Burnout zu sprechen als von anderen psychischen Problemen.“

Burnout sei salonfähiger. Denn das Ausgebranntsein suggeriere, dass man viel geleistet habe und fleissig war. Und es gibt einen Schuldigen: Die Arbeitgebenden.

Dabei seien die Arbeitsbedingungen nicht nur schlechter geworden, findet Baer. „Ich denke, vieles hat sich auch verbessert: Es gibt heute viel mehr Unterstützungsangebote für Angestellte, der Führungsstil ist meist weniger autoritär als früher, die Führungskräfte besser geschult. Wir arbeiten weniger lange und es gibt die Möglichkeit von Homeoffice oder Gleitzeiten.“

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Und: Nicht alle die unter den gleichen Bedingungen arbeiten, brennen aus. Denn was die SRG-Umfrage auch zeigt: 70% sehen bei sich kein Risiko, an einem Burnout zu erkranken.

„Für mich ist es zu kurz gedacht, sich bei dem Phänomen nur auf die Arbeitsbedingungen zu fokussieren“, sagt Baer. Es bestehe die Gefahr, ein sehr komplexes Problem zu einseitig beheben zu wollen.

Jeder zweite Fall führt zur Kündigung

Der Psychologe hat in einer Studie mit der SWICA analysiert, warum die Reintegration von psychisch Erkrankten nach einer Krankschreibung oft scheitert, denn bei der Hälfte der Betroffenen kommt es zu einer Kündigung. „Das müsste nicht sein“, findet er.

Was man nicht vergessen dürfe: „Normalerweise ist Arbeit etwas vom Stabilisierendsten, das es gibt.“ Hilfreich wäre es auch, wenn die abklärende Ärzteschaft mit den Arbeitgebenden in Kontakt treten würden, um die Lage ganzheitlich zu betrachten. Das geschieht laut der Studie jedoch nur in einem Fünftel der Fälle.

Um das Burnout-Risiko zu stoppen, brauche es die Verantwortung von allen. Wichtig sei es, auf die ersten Anzeichen zu achten. Oft beginne es schleichend, mit einer ersten Verletzung, einer Frustration, einem Rückzug.

„Viele der Konfliktsituationen könnte man abfedern, wenn man sie früh genug angeht“, sagt Baer. Das heisse: mit dem Chef oder der Chefin ein klärendes Gespräch führen oder sich Unterstützung holen, um einen Umgang mit den Belastungen zu finden.

Aber auch die Arbeitgebenden seien in der Pflicht. Das Zentrum WorkMed unterstützt deshalb Führungskräfte und Personalverantwortliche mit Workshops im Umgang mit psychischen Problemen am Arbeitsplatz. Gemeinsam mit der Gewerkschaft Angestellte Schweiz hat das Zentrum beispielsweise eine AppExterner Link als Unterstützung für Angestellte entwickelt.

Auch die Gesundheitsförderung Schweiz bietet verschiedene PaketeExterner Link für Firmen an mit Tipps, wie Arbeitgebende positiv auf die Arbeitsbedingungen einwirken könnten.

Regina Jensen und Niklas Baer sind sich einig: Es ist gut, dass in unserer Gesellschaft mehr über Burnout gesprochen und die Erkrankung damit enttabuisiert wird.

Für Baer muss nun jedoch der nächste Schritt folgen: „Wir müssen unseren Umgang mit und unsere Sicht auf psychische Probleme allgemein überdenken.“ Denn: Kaum einer bleibe in seinem Leben davon verschont. Und daran sei nicht allein die Arbeit schuld.

Editiert von Marc Leutenegger

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