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Wie hängt die UNO heute mit der Demokratie zusammen?

Panoramablick auf einen blau beleuchteten Versammlungssaal der Vereinten Nationen
In New York versammelte sich die UN-Generalversammlung, um am 22. September 2025 den 80. Jahrestag der Gründung der Organisation zu begehen. Keystone / Wu Xiaoling

Die Abkehr der USA von der internationalen Ordnung und die damit einhergehende Budgetkrise werfen die Frage auf, wo die Verbindungen zwischen Demokratie und Multilateralismus liegen. Und ob der Multilateralismus gar zum Instrument von Diktaturen werden könnte.

«Das UNO-System ist nicht perfekt», sagt Michael Møller, der bis 2019 Generaldirektor der UNO in Genf, war. «Doch sie hat seit ihrer Schaffung nach dem Zweiten Weltkrieg ein einzigartiges Niveau von Frieden, Rechten und Wohlbefinden gebracht.»

Er verstehe, wenn man den Sicherheitsrat heute als dysfunktional wahrnehme. Die konkreten UNO-Projekte für Bildung, Nahrung und Entwicklung würden aber weiter gut funktionieren.

Obwohl sich die Wirkung der einzelnen Organisationen in Møllers Wahrnehmung im letzten Jahrzehnt verringert habe, bleibe die multilaterale Struktur ein Treiber von Frieden und Demokratie.

Michael Møller
Der damalige UNO-Generaldirektor in Genf, Michael Møller, im Juni 2019 neben der damaligen Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, an der 41. Session des UNO-Menschenrechtsrats Keystone / Magali Girardin

Andere sehen die Weiterführung dieser Erfolgsgeschichte gefährdet.

Es gebe momentan ein «globales Klima radikaler Unsicherheit», in welchem «lange gehaltene Annahmen über demokratische Resilienz und Multilateralismus» erschüttert seien, heisst es im Report 2025 des International Institute for Democracy and Electoral AssistanceExterner Link (IDEA). Das liege auch an der US-Regierung.

Die USA zieht sich aus einigen multilateralen Strukturen zurück, als wichtiges Geberland und Pfeiler der internationalen Ordnung seit dem Zweiten Weltkrieg. Teilweise bieten sich Länder wie China an, die Lücke zu schliessen – und multilaterale, wenig demokratisch geprägte Zusammenschlüsse wie der Brics-Verbund oder die Shanghai Cooperation Organization geraten in den Fokus.

In dieser Situation wird die Frage wichtig, ob sich Multilateralismus und Demokratie zwingend gegenseitig stärken. Könnte sich der Multilateralismus unter neuen Bedingungen zu einer Kraft des Demokratieabbaus entwickeln?

Forschung: Rolle von Multilateralismus bei Demokratieabbau?

Daraufhin deutet die Forschung der US-Politikwissenschaftlerin Anna M. Meyerrose. In einem ArtikelExterner Link warnt sie davor, dass Staaten, die Demokratierückschritte erleben, internationale Organisationen als trojanische Pferde untergraben könnten. Dafür hat sie, gemeinsam mit ihrem Kollegen Irfan Nooruddin, die Abstimmungsresultate im UNO-Menschenrechtsrat (UNHRC) von 2006 bis 2021 ausgewertet.

Im Fokus liegen Staaten, die nach einer Phase der Demokratisierung einen Demokratieabbau erlebten. Gemäss ihrer Forschung fordern solche «Backsliders» den Menschenrechtsrat mehr heraus als ihre «seit jeher nicht-demokratischen Gegenstücke». Staaten, die einen Demokratieabbau hinter sich haben, würden sich öfter enthalten oder Nein stimmen, wann immer Resolutionen auf Menschenrechtsverletzungen in einzelnen Ländern zielen.

Gleichzeitig würden solche Staaten mit dem Instrument des Universal Periodical ReviewExterner Link (UPR) häufiger Menschenrechtsmängel in «konsolidierten westlichen Demokratien» kritisieren, «um die etablierte liberale internationale Ordnung herauszufordern».

Lesen Sie auch unseren Artikel über die aktuelle Session des UNO-Menschenrechtsrats:

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Meyerrose sieht multilaterale Organisationen gar als mitverantwortlich für den Demokratieabbau vieler Staaten. Das Vorgehen internationaler Organisationen nach Ende des Kalten Krieges habe «unbeabsichtigt Bedingungen geschaffen, die einen Demokratieabbau begünstigen», schreibt sie auf Anfrage von Swissinfo. Ihr Buch dazu, «Eroding Democracy from the outside in», erscheint bald bei Oxford University Press.

Bei der internationalen Demokratieförderung sei der Fokus auf der Entwicklung von starken Staaten und Regierungen gelegen. Dies habe eine erste Demokratisierung ermöglicht, aber mache einen Demokratieabbau mittelfristig wahrscheinlicher.

Denn andere entscheidende demokratische Institutionen, wie politische Parteien, hätten internationale Förderer dabei vernachlässigt. Man habe nach 1989 in der Hoffnung, dass sich autokratische Regime öffnen, generell mehr Macht an internationale Organisationen delegiert – und damit lokale Parteiensysteme geschwächt.

Gibt es einen Zusammenhang von Frieden und Demokratie? Lesen Sie auch unseren Artikel dazu:

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«Die Weigerung der USA, die liberale Ordnung zu verteidigen»

Trotz ihrer eher ernüchternden Perspektive glaubt Meyerrose, dass Demokratieförderung Staaten motivieren könne, «mindestens minimale demokratische Institutionen» zu bewahren.

Zum «Isolationismus der USA» unter Donald Trump äussert sie sich denn auch kritisch: «Die ungebremste und unumkehrbare Weigerung der USA, die liberale internationale Ordnung gegen ihre Kritiker zu verteidigen, versetzt die Welt in ein seit der Zwischenkriegszeit der 1930er-Jahre unbekanntes Terrain.»

Meyerrose fürchtet eine weitere Erosion der westlichen demokratischen Koalition der letzten zwanzig Jahre, weil insbesondere der UNHRC und das von ihm angeführte internationale Menschenrechtssystem immer weniger Fürsprechende habe.

Ein Schild mit der Aufschrift "ETATS-UNIS" auf dem Tisch in einem Konferenzraum.
Der Platz der amerikanischen Delegation während der Sitzung des Menschenrechtsrates am europäischen Sitz der Vereinten Nationen in Genf, am 8. September 2025. Keystone / Salvatore Di Nolfi

So definiert die UNO Demokratie

In den UNO-Gremien sind bekanntlich Diktaturen genauso vertreten wie Demokratien.

Statt «Demokratisierung», was heikel wäre, werden darum eher Begriffe wie «Partizipation» oder «Gerechtigkeit» genutzt. «Doch jetzt sehen wir, wie auch diese – verwässerten – Begriffe auf Antrag der US-Delegationen aus den UNO-Papieren verschwinden», sagt die Politikwissenschaftlerin Christine Lutringer.

Zusammen mit Laura Bullon-Cassis hat Lutringer in einer Kooperation der Kofi-Annan-Stiftung mit dem Graduate Institute in Genf die Anknüpfpunkte von Demokratie und Multilateralismus zu beleuchten versucht.

In einem daraus entstandenen Policy BriefExterner Link steht, Menschenrechte seien eine Bedingung demokratischer Gesellschaften. Zugleich sei Demokratie aber auch die einzige Regierungsform, die «den vollen Genuss aller Menschenrechte ermöglicht».

Erst 2002 definierte die UNO-Kommission für Menschenrechte Demokratie – und zwar auf eine umfassende Art, die weit über regelmässige Wahlen hinausgeht: Sie beinhaltet persönliche und gesellschaftliche Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit ebenso wie Gewaltenteilung, Rechenschaftspflicht und freie Medien. Menschenrechte und Grundfreiheiten kann es gemäss der Definition nur in dieser Regierungsform geben.

Bullon-Cassis ist den Gesprächen im Rahmen des Projekts etwas aufgefallen, was eher überrascht: Die Beteiligten bemerkten, dass sie zu selten über den Kern der Demokratie diskutieren. «Insbesondere bei unserem Runden Tisch zu Demokratie und Menschenrechte, hier in Genf am Rande des Menschenrechtsrats, haben die Teilnehmenden – Diplomat:innen und hochrangige Persönlichkeiten – betont, wie selten sie Demokratie beim Gespräch über Menschenrechte ins Zentrum stellen», sagt Bullon-Cassis.

Stützt «Minilateralismus» die Demokratieentwicklung?

Lutringer sieht aber auch positive Signale für die multilaterale Entwicklung. So hat sich kürzlich die Afrikanische Union eine umfassende Definition von Demokratie gegeben und in Genf könne man Signale beobachten, dass kleinere Staaten aktiver werden und sich einbringen. Bereits spreche man von «Minilaterismus», sagt Lutringer.

Die multilaterale Sphäre in Genf reicht über die UNO hinaus. Hier erhalten Sie einen Überblick:

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Wenn der Rückzug der USA dazu führe, dass Demokratie weniger als westliches Konzept wahrgenommen wird, könne das positiv sein, sagt wiederum Bullon-Cassis.

Im Westen sei die Stimmung getrübt unter Aktivist:innen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs), doch anderswo erlebe man demokratischen Aufbruch. Lutringer erinnert daran, dass die Bangladeschis kürzlich eine sich autoritär gebärdende Regierung stürzten. Bullon-Cassis nennt Nepal, wo eine Abstimmung auf dem Online-Kanal Discord eine Interims-Regierungschefin bestimmte.

Gleichzeitig beobachtet Bullon-Cassis, dass China als Land, «das normalerweise nicht mit demokratischer Regierungsführung in Verbindung gebracht wird, eine stärkere Führungsrolle in globaler Gouvernanz einnimmt». Momentan sei unklar, ob innerhalb des UNO-Rahmens oder «ausserhalb der existierenden Kanäle des Multilateralismus».

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In der Vergangenheit war es nachweislich so, dass Demokratien in der multilateralen Sphäre aktiver waren. «Demokratische Staaten beteiligen sich häufiger in internationalen Verhandlungen und in multilateralen Systemen», erklärt Lutringer. Wie es sich auswirkt, wenn ein grosser demokratischer Staat in eine andere Richtung geht, werde sich noch zeigen.

«Form der Demokratie in der UNO-Generalversammlung»

Während die beiden Wissenschaftler:innen, die mit der Kofi Annan-Foundation kooperieren, eher zurückhaltend argumentieren, ist Michael Møller – der im Vorstand der Kofi-Annan-Foundation sitzt – überzeugt: Multilateralismus werde ein Treiber von Demokratie bleiben.

«Die UNO ist in einer Übergangsphase, eine Evolution findet statt», sagt Møller, der über 40 Jahre für die UNO gearbeitet hat. Doch die Welt könne nicht überleben ohne multilaterales System. So integriert wie das globale Staatensystem ist, brauche es Kollaboration.

Der Austauschprozess im multilateralen Rahmen ist für Møller in sich ein Beitrag zur Demokratisierung. «Wenn Sie so wollen, gibt es verschiedene Ebenen von Demokratie. Auf lokaler, nationaler und globaler Ebene: In der UNO-Generalversammlung in New York wird eine Form von Demokratie gelebt, wo jedes einzelne Land zusammenkommt und diskutiert, wie man globalen Fragen begegnet, denen man gemeinsam begegnen muss.»

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Editiert von David Eugster/gm

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