Der Demokratiekritiker, der die Schweiz missversteht
Demokratie-Bashing ist "in". Bei Populisten und neu auch bei Intellektuellen. Einer von ihnen ist Parag Khanna. In seinem Buch* propagiert er den "Info-Staat" – ein Mix von direkter Demokratie nach Schweizer Vorbild und dem autoritären Technokratenregime in Singapur. Die genaue Lektüre aber zeigt: Von echter Mitbestimmung hält der US-Politologe nicht viel. Seine Thesen im Faktencheck.
Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch.
«Gegen Wahlen»Externer Link und «Jenseits von Demokratie»Externer Link: Die Bücher des belgischen Historikers David van Reybrouck und des US-Politologen Jason Brennan sind Programme einer neuen Welle von grundsätzlicher Demokratie-Kritik aus wissenschaftlicher Warte.
Die Amplitude der Debatte, welche die beiden Autoren mit ihren Beiträgen erzeugten, macht klar: Die Zeit ist reif, auch radikale Demokratie-Reformen, die auf die Einschränkung der Mitbestimmungsrechte der Bürger abzielen, in die Runde zu werfen.
Jetzt ist auch Parag KhannaExterner Link, Politologe und CNN-Experte für Geopolitik, auf diesen Zug aufgesprungen.
Khanna hält die «direkte Technokratie» für die beste Regierungsform. Darin kombiniert er Elemente der direkten Demokratie nach dem Modell der Schweiz und der Technokratie «Made in Singapur». Dieses Ideal nennt er «Info-Staat».
Angezogen von der «Demokratie der Verbote»
Das 130-seitige Buch ist auch auf Deutsch erhältlich, und das erst noch im kostenlosen DownloadExterner Link. Dies dank des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI), das auch für die Übersetzung sorgte. ). Zunächst wartet Khanna mit einer Reihe von Liebeserklärungen an die Schweizer Demokratie auf.
Das suggeriert eine grosse Nähe zum Schweizer Modell, in dem die Stimmbürger als Souverän agieren. Doch rasch wird klar: Khannas wahre Liebe gilt dem autoritär geführten Stadtstaat Singapur.
Er stellt in seinem Buch nicht nur Behauptungen auf, die nachweislich falsch sind. Ihm unterlaufen auch wesentliche Denkfehler.
Ein Widerspruch von #DearDemocracy in fünf Punkten.
1. «Man sollte Demokratie nicht als Universallösung betrachten, sondern als Prinzip, das es auf dem Weg zum übergeordneten Ziel der guten Governance zu beachten gilt.»
Diese Aussage wiederholt er gleich an mehreren Stellen. Dazu ein paar historische Fakten: Zwar wurde mit der Einführung der Volksinitiative durchaus die Hoffnung verbunden, dass mit direkter Demokratie der Wohlstand steigen werde.
Die Orientierung an Zahlen ist aber nur zweitrangig. Zentral sind die Wünsche und Anliegen, die in den demokratischen Prozess eingespeist werden. Denn die «Demokratie ist kein Algorithmus zur effizienten Entscheidfindung, den man durchspielen muss, damit er unanfechtbare Ergebnisse liefert», wie jüngst ein Journalist der Neuen Zürcher ZeitungExterner Link schrieb.
Demokratie ist primär ein ergebnisoffenes Verfahren oder eine Technik. Je mehr Bürger sich daran beteiligen, die von den Entscheidungen betroffen sind, desto höher ist auch die Legitimität dieser Entscheide. Demokratie ist nie nur Mittel zum primären Zweck einer effizienten Staatsführung.
2. «Es besteht kein Zweifel daran, dass Manipulationen, Tracking und die Kontrolle des Internetzugangs Regierungen Spielräume für Machtübergriffe verschaffen. Aber die Legitimität von Regierungen wird nicht durch solche Verhaltensweise gestützt, sondern nur dann, wenn das Internet genutzt wird, um öffentliche Anliegen zu registrieren und zu bearbeiten.”
Auch diese Passage ist bezeichnend für Khannas eigenartige Interpretation von Bürgerbeteiligung und Legitimität. Der Politologe anerkennt, dass die Wünsche von Einwohnern Ausgangspunkt jeglichen Regierungshandeln sein muss.
Doch werden diese nicht diskursiv verhandelt, durch deliberative Debatten an Stammtischen, in Foren oder in TV-Sendungen. Geschweige denn durch die Mitbestimmung an der Urne. Die ausgeprägten politischen Bürgerrechte der Schweiz erwähnt Khanna durchaus anerkennend, im Sinne einer erzieherischen Wirkung.
Er propagiert jedoch andere Methoden für die Aufnahme von Bürgeranliegen. Nicht via Stimmzettel, sondern via Big Data. Kommentare in den sozialen Netzwerken sollen dafür in Echtzeit ausgewertet werde.
«Digitale direkte Demokratie»
Fake News aus Troll-Fabriken, Social-Media-Filterblasen, Bots, reale Weltpolitik via Twitter: die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung steht heute praktisch überall weit oben auf der politischen Agenda.
In einer Serie beleuchtete Autorin Adrienne Fichter für #DearDemocracy Einfluss und Auswirkungen der digitalen Technologie auf das System und die Abläufe in der direkten Demokratie Schweiz.
Konkret legte Fichter den Fokus auf den Einfluss von Social Media auf Wahlen und Abstimmungen, digitale Bürgerbeteiligung, E-Government, Civic Tech und Open Data.
Der vorliegenden Faktencheck ist der letzte Beitrag der Serie.
Beeindruckt von der Effektivität von Staatsapparaten autoritärer Regime wie China, plädiert Khanna für eine scharfe staatliche Beobachtung und Kontrolle der Social Media. In China, argumentiert der US-Bürger, würden Behörden zwar Aussagen auf den Netzwerken Weibo und Wechat zensieren und User sanktionieren. Doch würden die Beamten die geäusserte Kritik, etwa betreffend Umweltverschmutzung oder Korruption, durchaus ernst nehmen.
Der Zweck heiligt in den Augen Khannas also die Mittel. Ein Euphemismus für den Überwachungsstaat, mit dem Ideal des gläsernen Bürgers. Und ein indirektes Plädoyer für eine smarte digitale Diktatur.
3. «Tatsächlich vertrauen die Schweizer ihrer direkten Demokratie so sehr, dass die Bürger das Parlament und seine Vermittlerfunktion mittlerweile als irritierend empfinden. Kürzlich wurde sogar eine Initiative auf den Weg gebracht, um das Parlament vollständig abzuschaffen.»
Diese Aussage ist schlicht falsch. Eine Volksinitiative mit dem Ziel einer Abschaffung des Parlaments ist bisher weder lanciert noch eingereicht worden, bestätigt René Lenzin von der Bundeskanzlei in Bern. Khanna hat vermutlich eine geplante Volksinitiative gemeint, welche die Verteilung der Parlamentssitze (grosse Kammer) per Los verlangtExterner Link. Genau dies fordert auch der eingangs erwähnte David Van ReybrouckExterner Link. Aber eine Annahme des Begehrens käme keinesfalls einer Eliminierung der Schweizer Legislative gleich.
Im Gegenteil: Umfragen Externer Linkbestätigen seit Jahren, dass Regierung und Parlament bei der Schweizer Bevölkerung grosses bis sehr grosses Vertrauen geniessen.
4. «Es geht nicht darum, eine algorithmische Ordnung zu konstruieren, sondern ähnlich wie in der Musik oder Architektur mit generativen Algorithmen zu arbeiten, die interaktiv sind und durch ihr offenes Ende unbegrenzte Möglichkeiten bieten.»
Der Politologe äussert sich nur diesem Abschnitt darüber, wie die digitale Verarbeitung von Bürgerideen konkret ausgestaltet werden soll. Er steht der Digitalisierung und den damit verbundenen technologischen Möglichkeiten wie Künstliche Intelligenz positiv, ja fast euphorisch gegenüber.
Seine Vorstellungen sind jedoch naiv: Eingesetzt werden sollen Algorithmen, die niemanden diskriminieren, ergebnisoffen sind und sich gleichzeitig systemimmanent anpassen. Nur: Solche Algorithmen sind reine Utopie, bisher zumindest.
Unklar bleibt in Khannas Auslegeordnung auch, welche politischen Positionen das Agenda-Setting beeinflussen und wie der Volkswille überhaupt ermittelt werden soll. Angenommen, auf Facebook wird über Einwanderung gestritten. Die öffentliche Meinung dazu fällt negativ aus. Werten nun Khannas Technokraten – die idealerweise sich selbst politisch neutral verhalten – dies als umzusetzendes Verdikt des Volkes?
Im Buch bleibt Khanna Antworten auf all diese Fragen schuldig. Einfacher und unmissverständlicher sind da die Schweizer Abstimmungen, denn sie ergeben ein verbindliches Ja oder Nein.
5. «Man wirft der EU ein ‹demokratisches Verständnis› vor; in Wahrheit besteht das Defizit aber darin, dass Technokraten in Europa nicht genug Einfluss haben, um tatsächlich politische Massnahmen umzusetzen, die Europa stärken.”
Mit dieser Aussage outet sich Parag Khanna definitiv als Anhänger des entpolitisierten Technokratie-Staats. Je mehr Autonomie und Kompetenzen Beamte und Experten hätten, desto höher sei der Wohlstand und die Zufriedenheit mit der Politik, behauptet Khanna.
Er glaubt, dass die Entfremdung der Bürger von Europa die Folge dilettantischer Politikausübung sei. Er negiert damit aber schlichtweg die Bedürfnisse vieler Bürger nach mehr politischer Mitbestimmung. Deutschland Externer Linkist ein leuchtendes Beispiel dafür.
*Parag Khanna: Technocracy in America: Rise of the Info-State, 2017.Externer Link
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